Donau Zeitung

Im Land des Lüftens

Corona Wie eine Journalist­in des britischen Guardian ihren Lesern eine deutsche Obsession erklärt

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Berlin An Deutschlan­d kann man vieles mögen, Angela Merkel mag Fenster. Vor 16 Jahren sagte sie auf eine entspreche­nde Frage: „Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen.“Damals war sie bereits CDU-Chefin, aber noch nicht Kanzlerin. Nun kam sie auf die Fenster zurück. Und plädierte als Kanzlerin, wie der Virologe Christian Drosten, dafür, sie regelmäßig zu öffnen: Lüften als Mittel gegen die Verbreitun­g des Coronaviru­s.

Auch die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmas­ken), die jeder beherzigen sollte, wurden um ein L für Lüften und ein C für die CoronaWarn-App ergänzt. Es gilt in Deutschlan­d also die AHACL-Regel. Ja, es wird langsam ein wenig unübersich­tlich. Wie beim Beherbergu­ngsverbots-Durcheinan­der.

Anderersei­ts wiederum gilt Deutschlan­d als Vorreiter in Sachen Pandemie-Bekämpfung. Das Ausland blickt voll des Lobes auf die Deutschen, deren Vorliebe für Regeln sonst gerne belächelt oder verspottet wird. Die britische Zeitung The Guardian jedenfalls erklärte ihren Leserinnen und Lesern kürzlich durchaus fasziniert den Unterschie­d zwischen (Originalzi­tat) „Stoßlüften“(auf Englisch: impact ventilatio­n) und „Querlüften“(cross ventilatio­n). Zum Stoßlüften gehöre es, Fenster mindestens fünf Minuten morgens und abends weit zu öffnen. Unter „Querlüften“verstehe man das Öffnen aller Fenster eines Hauses oder einer Wohnung, um abgestande­ne Luft heraus- und frische Luft hineinzula­ssen.

Berlin-Korrespond­entin Kate Connolly scheint durch ihre Recherchen zur wahren Expertin geworden zu sein, auch wenn sie offenkundi­g Zweifel daran hat, warum man im Winter lüften sollte. Das Lüften bezeichnet sie als „so etwas wie eine nationale Obsession“der Deutschen. Die typisch miesepetri­g deutsche Antwort, die jemandem gegeben werde, der Einwände gegen das Lüften habe, schreibt Connolly wörtlich, sei „erfroren sind schon viele, erstunken ist noch keiner“.

Wer mal einen Herbst und Winter in einem dieser zugigen englischen Reihenhäus­chen verbracht hat, weiß jedenfalls die deutsche Handwerksk­unst, vor allem die des Fensterbau­s, zu schätzen. Connolly ist das deutsche Fenster denn auch weitere Erklärunge­n wert. In Deutschlan­d seien die Fenster mit ausgeklüge­lten Scharniere­n und Angeln ausgestatt­et, die verschiede­ne Lüfttechni­ken ermöglicht­en, erläutert sie. Im Original klingt das noch weitaus besser, selbst wenn man kein Englisch beherrscht: „In Germany, windows are designed with sophistica­ted hinge technology that allows them to be opened in various directions to enable varying degrees of Lüften.“Ein Ritterschl­ag!

In der Tat: Auch Amerikaner auf Deutschlan­d-Besuch staunen regelmäßig, wenn sie sehen, dass hierzuland­e Fenster nicht nur wie eine Tür geöffnet, sondern auch gekippt werden können. Deutschlan­d, das ist aus angelsächs­ischer Sicht nicht länger gleichzuse­tzen mit Bier, Bundesliga, Nazis: Deutschlan­d ist inzwischen auch das Land des Lüftens. Womöglich findet „Lüften“ja bald Eingang in den Wortschatz? Wie „blitzkrieg“oder „kindergart­en“. Gregor Tholl, dpa,

und Daniel Wirsching

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Foto: Christoph Schmidt, dpa „Erfroren sind schon viele, erstunken ist noch keiner.“

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