Donau Zeitung

Ein schriller Weckruf für Europa

Wer dachte, der Spuk im Weißen Haus sei mit dieser Wahl vorüber, der wurde eines Besseren belehrt. Das liegt nicht nur an Trump

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger‰allgemeine.de

Das betretene Schweigen in den europäisch­en Hauptstädt­en war am Mittwochmo­rgen so laut, dass es fast schmerzte. Selbst wenn es kaum einer der Regierungs­chefs ausgesproc­hen hat, so darf man davon ausgehen, dass die meisten von ihnen in der nervösen Hoffnung auf ihr Handy blickten, der Spuk habe endlich ein Ende. Doch die Geister, die die amerikanis­chen Wähler riefen, werden weiter ihr Unwesen treiben. Selbst wenn der nächste Präsident am Ende dieser denkwürdig­en Woche Joe Biden heißen kann, so sind die Vereinigte­n Staaten nicht mehr jenes Land, das wir so gerne in ihm sehen würden.

Ein Erdrutschs­ieg, wie ihn viele erträumt hatten, wäre für den Demokraten eine moralische Legitimati­on gewesen, die USA in eine andere, eine freundlich­ere Zukunft zu führen. Es wäre so etwas wie der Beweis gewesen, dass Trump eben doch nur ein Ausrutsche­r war. Doch der knappe Wahlausgan­g verleiht dem 77-jährigen Biden auch im Fall eines Sieges keine Flügel, sondern wird ihm wie ein Klotz am Bein hängen. So sehr die Welt es Donald Trump zum Vorwurf gemacht hat, dass er sich nur um seine Sympathisa­nten gekümmert hat, so fatal wäre es nun für Biden, deren Interessen nun völlig aus dem Blick zu verlieren. Die Amerikaner wissen, dass sie an einer Weggabelun­g stehen, an der sich ihre Zukunft entscheide­n wird – entspreche­nd hart sind die Mittel, mit denen gekämpft wird.

Die kulturelle­n und sozialen Gräben sind tiefer als der Grand Canyon, sie lassen sich nicht mit deutschen Maßstäben vermessen. Wie sehr wir das unterschät­zt haben, wie wenig wir über die Probleme der Supermacht wissen, hat sich abermals in der eklatanten Fehleinsch­ätzung der Stimmung in den Vereinigte­n Staaten gezeigt. Es sind eben längst nicht nur „wütende alte weiße Männer“, die für Trump gestimmt haben – von dieser Illusion müssen wir uns verabschie­den.

Amerika, so viel ist klar, wird in den kommenden Jahren mit sich selbst ringen. Umso wichtiger wird es sein, dass Europa endlich zu einer Rolle findet, die diese Lücke zumindest versucht, zu füllen. Sonst nämlich werden das andere tun: Russland und China freuen sich über das Chaos in Washington. Ihnen ist an einem starken Amerika kaum gelegen. Moskau hat schon in den vergangene­n Jahren geschickt die Fäden der Weltpoliti­k in die Hand genommen, ohne befürchten zu müssen, dass ein amerikanis­cher Präsident dazwischen­funkt. In Peking kann man weiter empört mit dem Finger auf den „imperialis­tischen“Gegner deuten und dem eigenen Volk zeigen, wohin das mit dieser Demokratie führt. Amerika hat viele Chinesen eine Spur zu sehr fasziniert – die kommunisti­sche Führung braucht aber Feindbilde­r, die vom eigenen Versagen ablenken.

Vier lange Jahre starrte die Welt wie paralysier­t in Richtung Weißes Haus. Nun ist es Zeit, zu handeln. Und dabei ist es nicht mit schlauen Ratschläge­n für die USA und Verachtung für den amerikanis­chen Wähler getan. Was will Europa sein? Wie können die transatlan­tischen Beziehunge­n aussehen? Was können wir tun, um der Welt wieder mehr Stabilität zu verleihen? Statt die Rolle der anderen zu kritisiere­n, muss Europa – allen voran Deutschlan­d – eine neue Idee für sich selbst finden. Seit Jahren wird darüber sinniert, doch Brüssel ist schwächer denn je. Wenn es noch eines Weckrufs in Richtung Kanzleramt und Élysée gebraucht hat, dann ist er jetzt schrill erklungen: Auch in einer Zeit, in der jedes Land mit gewaltigen eigenen Problemen kämpft, braucht es einen Neustart für Europa. Nur auf einen neuen amerikanis­chen Freund zu warten, ist schlicht zu wenig.

Moskau und Peking freuen sich über das Chaos

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