Donau Zeitung

Strukturie­rtes Chaos

Zurzeit ist Indian Summer auf der Schwäbisch­en Alb – vielleicht mehr als ein Farbspekta­kel der Natur

- VON MICHAEL BRENDEL

Was für ein Jahr! Da taucht aus dem Nichts ein unsichtbar­er Winzling auf und wirbelt alles Gewohnte durcheinan­der. Kaum etwas fühlt sich noch an wie zuvor. Soziale Kontakte verkümmern, gemeinsame­s Erleben wird zur Seltenheit. Sicher scheint nur, dass nichts mehr sicher ist.

Gespräche und Gedanken drehen sich unablässig um eine Frage: Wie kommen wir aus dieser Situation möglichst schnell und unbeschade­t wieder heraus? Anfangs ist die Antwort klar: Mit einer gemeinsame­n Kraftanstr­engung. Mit Vernunft und Disziplin. Aus voller Kehle wird das Hohelied der Solidaritä­t gesungen. Wessen Tätigkeit als systemrele­vant gepriesen wird, den beklatsche­n die Menschen – ehe sie ihm das Klopapier weghamster­n.

Die meisten halten Hygiene- und Abstandsre­geln bereitwill­ig ein. Bis die Beherrschu­ng allmählich zu bröckeln beginnt. Dorffeste fallen aus, der Sportbetri­eb ruht, Kneipen haben geschlosse­n, Ferienflie­ger verharren am Boden. Gleichzeit­ig kommt plötzlich wieder in Mode, was lange ein öder Zeitvertre­ib der Alten schien: wandern. Gerne über längere Strecken. Oder Spaziergän­ge im Wald.

Dass der geradezu sinnbildli­ch für die nun gefragten Tugenden steht, mag sich dem Heidenheim­er Luftbildfo­tografen Siegfried Geyer mit jeder Runde deutlicher erschließe­n, die er dieser Tage über dem Kreis Heidenheim dreht. Über Millionen von Bäumen rauscht er hinweg, über benadelte und belaubte, ausladende und mickrige, junge und alte, über kraftstrot­zende Eichen wie auch käfergepla­gt ihre dürren Wipfel in die Höhe reckende Fichten.

Von oben betrachtet ragt keiner heraus. Und nur der Verbund ist robust genug, Stürmen, die Schneisen in den Forst brechen wollen, die Stirn zu bieten. Bezaubernd nimmt sich das herbstlich­e Gesamtkuns­twerk obendrein aus. Mal ist es zum gelb-braun-rot-grünen Mosaik kombiniert, mal zum pastellfar­benen Schleier verschwomm­en. Bei Lichte besehen ein Paradies für Wimmelbild-Liebhaber. Oder für Laubbläser-Enthusiast­en.

Auf jeden Fall aber ein überrasche­nd strukturie­rtes Chaos, das seine Geschlosse­nheit nur behält, solange sich keiner hängen lässt und dadurch die anderen gefährdet. Es stimmt. Keiner ist wie der andere, und als solidarisc­her Teil des Ganzen dann eben doch wieder besonders.

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Fotos: Geyer Luftbild Windpark an der A 7: Wie hier greift die Natur gerade vielerorts ganz tief in den Farbtopf.
 ??  ?? Von der Brenz umschlunge­n: der Buigen im Eselsburge­r Tal.
Von der Brenz umschlunge­n: der Buigen im Eselsburge­r Tal.
 ??  ?? Forstliche Geometrie auf den Reutenen bei Mergelstet­ten.
Forstliche Geometrie auf den Reutenen bei Mergelstet­ten.
 ??  ?? Ein einsamer blauer Fleck inmitten des bunten Waldes: das Heidenheim­er Waldbad nach Saisonende.
Ein einsamer blauer Fleck inmitten des bunten Waldes: das Heidenheim­er Waldbad nach Saisonende.

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