Strukturiertes Chaos
Zurzeit ist Indian Summer auf der Schwäbischen Alb – vielleicht mehr als ein Farbspektakel der Natur
Was für ein Jahr! Da taucht aus dem Nichts ein unsichtbarer Winzling auf und wirbelt alles Gewohnte durcheinander. Kaum etwas fühlt sich noch an wie zuvor. Soziale Kontakte verkümmern, gemeinsames Erleben wird zur Seltenheit. Sicher scheint nur, dass nichts mehr sicher ist.
Gespräche und Gedanken drehen sich unablässig um eine Frage: Wie kommen wir aus dieser Situation möglichst schnell und unbeschadet wieder heraus? Anfangs ist die Antwort klar: Mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung. Mit Vernunft und Disziplin. Aus voller Kehle wird das Hohelied der Solidarität gesungen. Wessen Tätigkeit als systemrelevant gepriesen wird, den beklatschen die Menschen – ehe sie ihm das Klopapier weghamstern.
Die meisten halten Hygiene- und Abstandsregeln bereitwillig ein. Bis die Beherrschung allmählich zu bröckeln beginnt. Dorffeste fallen aus, der Sportbetrieb ruht, Kneipen haben geschlossen, Ferienflieger verharren am Boden. Gleichzeitig kommt plötzlich wieder in Mode, was lange ein öder Zeitvertreib der Alten schien: wandern. Gerne über längere Strecken. Oder Spaziergänge im Wald.
Dass der geradezu sinnbildlich für die nun gefragten Tugenden steht, mag sich dem Heidenheimer Luftbildfotografen Siegfried Geyer mit jeder Runde deutlicher erschließen, die er dieser Tage über dem Kreis Heidenheim dreht. Über Millionen von Bäumen rauscht er hinweg, über benadelte und belaubte, ausladende und mickrige, junge und alte, über kraftstrotzende Eichen wie auch käfergeplagt ihre dürren Wipfel in die Höhe reckende Fichten.
Von oben betrachtet ragt keiner heraus. Und nur der Verbund ist robust genug, Stürmen, die Schneisen in den Forst brechen wollen, die Stirn zu bieten. Bezaubernd nimmt sich das herbstliche Gesamtkunstwerk obendrein aus. Mal ist es zum gelb-braun-rot-grünen Mosaik kombiniert, mal zum pastellfarbenen Schleier verschwommen. Bei Lichte besehen ein Paradies für Wimmelbild-Liebhaber. Oder für Laubbläser-Enthusiasten.
Auf jeden Fall aber ein überraschend strukturiertes Chaos, das seine Geschlossenheit nur behält, solange sich keiner hängen lässt und dadurch die anderen gefährdet. Es stimmt. Keiner ist wie der andere, und als solidarischer Teil des Ganzen dann eben doch wieder besonders.