Von wegen „große Dummheit“
Das Stuttgarter Amtsgericht wertet die Randale zweier junger Männer in Stuttgart als schwere Straftat. Sie müssen ins Gefängnis. Jetzt warten bis zu 100 weitere Prozesse
Stuttgart „Das macht mich sprachlos“, sagt Anwalt Marc Reschke und kündigt umgehend an, Rechtsmittel einzulegen. „Ich bin entsetzt, mein Mandant ist entsetzt, so ein Urteil haben wir nicht erwartet. Das hat niemand erwartet.“
Das Stuttgarter Amtsgericht hat kurz zuvor Reschkes Mandanten, einen 18-jährigen Deutschen, zu zwei Jahren und sechs Monaten Jugendstrafe wegen schweren Landfriedensbruchs und versuchter gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Ein überraschend hartes Urteil. Die Staatsanwältin selbst hatte für eine zweijährige Bewährungsstrafe plädiert, Rechtsanwalt Reschke gar nur Arrest und erzieherische Maßnahmen statt einer Jugendstrafe erwogen. Es ist unter großem Medienandrang das erste öffentliche Verfahren gegen einen Beteiligten der Stuttgarter Krawallnacht.
Bei den Ausschreitungen hatten im Juni hunderte junger, teils alkoholisierter Männer Teile der Stuttgarter Innenstadt in ein Schlachtfeld verwandelt, mehr als 40 Geschäfte demoliert und geplündert, Streifenwagen beschädigt, Polizeibeamte beleidigt, angegriffen und verletzt. Die Aufnahmen aus dieser Nacht, viele Schnipsel aus Videoaufnahmen, Überwachungskameras und Bodycams der Polizei, minutenlang im Prozess eingespielt, zeigen: Für viele Täter war diese Nacht ein Gewalt-Happening, ein knisternder Riesenspaß. Der Angeklagte spricht am Dienstag über seinen Anwalt von einer „großen Dummheit“.
Der 18-Jährige aus dem Stuttgarter Umland war in der Nacht beim Feiern mit Freunden, hatte reichlich „Jackie-Cola“getankt, wie er sagt, und dann ging es irgendwie los mit der Randale. „Warum?“, fragt der Richter, „wie kommt man auf die Idee, auf einen Streifenwagen einzuschlagen?“Der 18-Jährige kann es nicht beantworten. „Ich habe keine Erklärung“, sagt er und beteuert, weder zum Rechtsstaat noch zur Polizei ein gestörtes Verhältnis zu haben. „Ich habe das nicht durchdacht, habe mich mitreißen lassen.“
In der Krawallnacht wirft er eine halb volle Getränkedose in Richtung der Beamten, schlägt mit Fäusten und einem schweren Glas-Teelicht auf die Scheiben eines Streifenwagens ein. Der Schaden ist mit 3000 Euro vergleichsweise gering. Es gibt Videoaufnahmen davon. Der 18-Jährige verletzt sich dabei schwer an der Hand und muss noch in der Nacht ins Krankenhaus.
Eine Woche später wird er bei einem erneuten Ausflug nach Stuttgart von einem Zivilbeamten identifiziert und festgenommen. Erst später räumt er scheibchenweise seine Beteiligung ein. Die Namen seiner Freunde nennt er nicht. Sieben Wochen U-Haft folgen. Eine einschneidende Erfahrung für den Auszubildenden, der zwar zuvor wegen typischer Jugenddelikte – Fahren ohne Führerschein, Beleidigung, Schwarzfahren, Diebstahl – schon auffällig wurde, aber ohne Vorstrafen ist und nach Einschätzung der Jugendgerichtshilfe eine gute Sozialprognose hat: ein stabiles familiäres Umfeld, er ist im zweiten Ausbildungsjahr als Industriemechaniker mit Aussicht auf Übernahme, hat einen ordentlichen Verdienst.
Der junge Mann entschuldigt sich auch persönlich bei dem Polizeibeamten,
der als Zeuge aussagt. Der Arbeitgeber hat ihn nach der U-Haft wieder aufgenommen, sein Verteidiger spricht von einem „Warnschuss“, der gewirkt habe. Den Richter überzeugt das nicht.
Am Nachmittag folgt an gleicher Stelle das zweite Krawallnacht-Verfahren gegen einen 19-Jährigen, der bereits vorbestraft ist und nicht annähernd eine vergleichbare Sozialperspektive hat. Keine Ausbildung, keine Arbeit, von der alleinerziehenden Mutter beherbergt und finanziert – seine wichtigsten Lebensinhalte sind „das Abhängen mit den Jungs“und Marihuana-Konsum.
Er demolierte in der Nacht ebenfalls ein Polizeiauto und verletzte sich dabei selbst. Anschließend prahlte er in sozialen Medien damit. Auch hier lautet das Urteil des Jugendschöffengerichts: zwei Jahre und sechs Monate Jugendstrafe. Der Täter sitzt seit August in U-Haft, wird in Handschellen vorgeführt und verlässt das Gericht wieder in Richtung Haftanstalt.
Das Sicherheitsgefühl der Bürger in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, bislang bekannt für ihren liberalen Polizeikurs, ist seit der Juni-Nacht beeinträchtigt. Es gibt jetzt eine Sicherheitspartnerschaft von Land und Polizei, Sozialarbeiter sind nachts mit Streifenbeamten unterwegs, die Polizeipräsenz ist enorm, vor allem an den Wochenenden. Seit den Corona-Beschränkungen ist es wieder ruhig am Eckensee zwischen Oper und Landtag, wo die Randale nach einer Polizeikontrolle startete. Aber die Unbeschwertheit der Flaneure ist Vergangenheit.
Etwa 500 Beteiligte sollen es damals gewesen sein. 106 Tatverdächtige wurden seither ermittelt, gegen zwei Drittel von ihnen ergingen Haftbefehle, 19 der Tatverdächtigen sitzen derzeit noch in U-Haft, ebenso viele Anklagen sind bereits erhoben und zwei Bewährungsstrafen – gegen Minderjährige unter Ausschluss der Öffentlichkeit – verhängt worden. Insgesamt erwartet das Amtsgericht bis zu 100 Prozesse zur Krawallnacht.
Die Unbeschwertheit der Flaneure ist dahin