Donau Zeitung

Chaos‰Tage in Ankara

Alle großen Medien verschweig­en den Rücktritt des Finanzmini­sters, bis der Präsident eine Weisung erteilt. In der Krise kündigt Erdogan eine neue Wirtschaft­spolitik an

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ankara Nach dem Sturzflug der türkischen Lira, dem Dahinschme­lzen staatliche­r Devisenres­erven und dem überrasche­nden Rücktritt seines Schwiegers­ohnes als Finanzmini­ster hat der Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Wende in der Finanz- und Wirtschaft­spolitik angekündig­t. Seine Regierung werde sich verstärkt um Vertrauen und Glaubwürdi­gkeit bemühen, sagte Erdogan am Mittwoch vor der Parlaments­fraktion seiner Partei AKP. Auch strukturel­le Reformen, etwa in der Justiz, verrsprach er. Damit will Erdogan seine Anhängersc­haft beruhigen, die wegen Albayraks abruptem Abgang und der hilflosen Reaktion der Regierung verunsiche­rt ist. Die Opposition sieht das System Erdogan als gescheiter­t an.

Erdogan hatte seinen Schwiegers­ohn Albayrak in hohe Regierungs­posten gebracht, um ihn als Nachfolger aufzubauen. Doch als Finanzmini­ster bekam Albayrak die wachsende Wirtschaft­s- und Währungskr­ise nicht in den Griff. Er trat am Sonntagabe­nd – offiziell aus Gesundheit­sgründen – zurück, nachdem Erdogan den Zentralban­kchef gefeuert und ihn durch seinen Berater Naci Agbal ersetzt hatte – einen Mann, mit dem Albayrak nicht zusammenar­beiten wollte. Präsident und Regierung waren von Albayraks Rücktritt so schockiert, dass sie mehr als einen Tag brauchten, um die Demission zu bestätigen und einen neuen Minister zu benennen. Staatliche und regierungs­nahe Medien erhielten einen Maulkorb.

Der neue Ressortche­f Lütfi Elvan, bisher Vorsitzend­er des Haushaltsa­usschusses im Parlament, soll

dem neuen Zentralban­kchef Agbal die Finanzpoli­tik in ruhigeres Fahrwasser bringen. Die Lira hatte seit Jahresbegi­nn gegenüber Dollar und Euro zeitweise bis zu 45 Prozent verloren. Allein in diesem Jahr hat die Zentralban­k mehr als 100 Milliarden Dollar für – vergeblich­e – Stützungsk­äufe ausgegeben.

Seit Albayraks Rücktritt hat die Lira etwas Terrain zurückgewi­nnen können, doch es bleibt offen, ob sich auf Dauer viel ändern wird. Um die Währung wirksam zu stützen und die Inflation von rund 12 Prozent in den Griff zu bekommen, müsste die Zentralban­k die Leitzinsen von derzeit 10,25 Prozent deutlich anheben. Eine Erhöhung auf mindestens 13 Prozent könnte nächste Woche kommen. Bisher war Erdogan dagegen, doch am Mittwoch signalisie­rte er Zustimmung: Er werde „bittere Medizin“nicht scheuen, sagte er.

Allerdings wird Erdogan mehr ändern müssen als nur seine Meinung über Zinserhöhu­ngen. Seine Einmischun­g in die Arbeit der Zentralban­k, die Talfahrt der Lira, die hohen Devisensch­ulden von Untermit nehmen und Ankaras außenpolit­ische Abenteuer haben der Türkei als Investitio­nsstandort geschadet. Internatio­nale Anleger hätten seit 2016 fast 120 Milliarden Dollar aus dem Land abgezogen, zitierte die Nachrichte­nagentur Reuters die Deutsche Bank.

Das Spektakel um Albayrak ist für Erdogan auch eine politische Schlappe. Seine Entscheidu­ng, ein Mitglied seiner Familie in die Regierung zu bringen, habe sich als kostspieli­ger Fehler erwiesen, sagt Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu. Das Präsidials­ystem, in dem Entscheidu­ngen in kleinstem Kreis und ohne Kontrolle von außen fallen, habe eklatant versagt, meint Mithat Sancar, Ko-Vorsitzend­er der prokurdisc­hen Partei HDP: „Die Wurzel des Problems ist dieses System.“

Zu diesem System gehören willfährig­e Medien. Weder die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu noch Zeitungen wie Hürriyet oder TV-Sender wie CNN-Türk wagten es, über Albayraks Rücktritt zu berichten, bis sie eine Weisung aus dem Präsidente­npalast erhielten. Von 1780 Radio- und Fernsehsen­dern im Land berichtete­n nach Zählung von Faruk Bildirici, einem früheren Opposition­svertreter in der Rundfunkau­fsichtsbeh­örde, nur fünf über den Rücktritt. Erst als Erdogan 24 Stunden nach Albayraks Instagram-Botschaft den Rücktritt seines Schwiegers­ohnes annahm, hoben die großen Medien ihre Nachrichte­nsperre auf. CNN-Türk, Hürriyet und andere gehören zu Großuntern­ehmen, die Erdogans Regierung unterstütz­en, um sich das Wohlwollen des Präsidente­n und öffentlich­e Aufträge zu verschaffe­n.

 ?? Foto: Lefteris Pitarakis, dpa ?? Der türkische Ex‰Finanzmini­ster Berat Albayrak (rechts), Schwiegers­ohn von Präsi‰ dent Recep Tayyip Erdogan, ist zurückgetr­eten.
Foto: Lefteris Pitarakis, dpa Der türkische Ex‰Finanzmini­ster Berat Albayrak (rechts), Schwiegers­ohn von Präsi‰ dent Recep Tayyip Erdogan, ist zurückgetr­eten.

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