Wie lernt man, sich selbst auszuhalten?
Von Betriebsseelsorger Thomas Hoffmann zur Adventszeit im Jahr 2020
es ist schon so: Vieles in meiner Arbeit findet derzeit am Computer oder Telefon statt. Treffen in Gruppen fallen aus. Veranstaltungen sagen wir ab. Private Treffen mit Freunden, abends mal weggehen ist derzeit unmöglich. Meinen Hallensport kann ich erst irgendwann im neuen Jahr wieder aufnehmen.
Die Kirchen sind plötzlich voll, weil weniger Gläubige mitfeiern dürfen. Jede und jeder erfährt es auf je eigene Art: Abläufe, Gewohnheiten, lieb gewonnene wie auch lästige, muss ich ändern, aufgeben, den gegebenen Rahmenbedingungen anpassen.
Pater Anselm Grün hat in einem Interview Ratschläge für die Quarantäne gegeben. Sein erster Ratschlag hieß: Sich selbst aushalten. Das gilt wohl nicht nur in Quarantäne, sondern grundsätzlich in dieser Zeit, wo so vieles nicht mehr möglich oder infrage gestellt ist: Ich muss üben, mich selbst auszuhalten. Dabei geht es darum, so Pater Anselm Grün, dass wir nicht ängstlich darauf schauen, was in uns alles hochkommt an Gedanken, Gefühlen und Ängsten, sondern vielmehr mit Neugier. Und Gedanken, Fragen und Ängste melden sich ja zuhauf:
Wozu braucht’s mich überhaupt? Wer und was ist mir wertvoll? Was trägt mich, wem vertraue ich? Denkt jemand auch an mich? Was soll ich noch, wenn mich die Enkel nicht mehr besuchen dürfen? Wie können wir unser gezwungenermaßen intensiveres Zusammenleben in der Familie, mit der Partnerin, dem Partner er- und verträglich gestalten? Wie werden wir Weihnachten feiern?
Was soll ich als Betriebsrat noch: Betriebsversammlungen sind nicht möglich, die Mitbestimmung ist schwieriger, betriebliche Weihnachtsfeiern sind gestrichen.
Was ist das für ein Arbeiten: Abstand halten, Maske tragen, in definierten Schichten in der Kantine essen und stets die Angst, mich anzustecken. Kolleginnen und Kollegen sehe ich nur noch am Bildschirm. Wie ist es um die Zukunft meiner Stelle bei anhaltender Kurzarbeit bestellt? Bin ich als Fernfahrer mehr als eine „Virenschleuder“, dem bei Betrieben, denen ich Ware liefere, der Zugang zu Sanitärräumen verwehrt wird? Werde ich gebraucht? Bin ich „systemrelevant“? Umgekehrt gefragt, was ist an „dem System relevant“? Was ist „menschenrelevant“, „gesellschaftsrelevant“? Werden wir gebraucht als Seelsorger, als Gemeinden, als Kirchen? Werden wir noch gebraucht als gewählte Volksvertreter? Sie kennen solche und ähnliche Fragen.
Eigentlich lädt uns jedes Jahr die Adventszeit ein, uns solchen Fragen
auszusetzen. Diese sogenannte „stade Zeit“gerät mir und uns freilich regelmäßig zu hektisch und zu laut. Besinnlich geht anders. Die Adventszeit 2020, die an diesem Sonntag beginnt, wird anders. Vielleicht gelingt es mir und uns ja, uns selbst auszuhalten, die Fragen, Gedanken, Sorgen und Ängste, die ich habe, mit Neugier zu betrachten.
Vielleicht entdecken wir dabei neu und tiefer unsere Sehnsucht nach gelingendem Leben, nach Nähe, nach einer Gesellschaft, die allen Platz bietet, einer Welt, in der Zärtlichkeit, Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden zu Hause sind. Vielleicht spüren wir, wie nahe wir mit dieser Sehnsucht bei Jesus sind, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern, wie sehr uns der Gott Jesu Lust darauf machen möchte, einem guten Leben für alle nachzujagen. Ich wünsche Ihnen eine erfüllte Adventszeit.