Wie TikTok den Pop verändert
Mit der chinesischen App werden Fans durch eigene Videos zum Teil der Geschichte eines Songs. Mittlerweile kooperiert auch die Popakademie Mannheim mit der Plattform
Vor fast 15 Jahren haben die HipHop-Opas der Beastie Boys ein Konzert im New Yorker Madison Square Garden unter einem Titel veröffentlicht, der sich grob mit „Krass! Das habe ich verdammt noch mal gefilmt!“übersetzen ließe. 50 Fans wurde eine HI8-Kamera in die Hand gedrückt, um aus der Zuschauerperspektive das Geschehen zu filmen. Heraus kam ein authentisch-verwackelter Konzertfilm, der, wie Rapper Mike D damals dem britischen Guardian erzählte, die Einheit von Fans und Band abbilden sollte. Damals in dieser Größenordnung ein Einzelfall, heute ein gängiges Element der Popkultur.
Verantwortlich dafür ist eine kleine App aus China, verfügbar seit August 2018. Die App hört auf den Namen TikTok und funktioniert im Prinzip so: Fans nehmen im Rahmen einer sogenannten Challenge zu einem kurzen, 15-sekündigen Ausschnitt eines Songs kleine Tanzoder Lippensynchronisationsvideos auf und laden sie samt passendem Hashtag auf die Plattform hoch. „So ist es ganz einfach, mit dem Lieblingskünstler in Kontakt zu treten, die Künstler wiederum nehmen den Faninput in ihre Videos – so wird der Fan zum Teil der Geschichte des Songs“, bringt David Stammer, Projektmanager für digitale Innovation an der Popakademie Mannheim, die Faszination der Plattform auf den Punkt.
Diese Faszination lässt sich in nackten Zahlen gut nachvollziehen, denn schneller wuchsen nur wenige mobile Apps. In gut zwei Jahren explodierte die Nutzerzahl auf stolze 800 Millionen Menschen, drei Viertel davon sind laut des Marketingblogs futurebiz jünger als 24 Jahre. Ein Riesenmarkt, den sich keiner entgehen lassen möchte. Auch die Hamburger Kirmestechno-Helden Scooter nicht.
Als deren erste Single in den Clubs lief, war der Löwenanteil der TikTok-Nutzer noch nicht einmal geplant. Letztes Jahr kooperierte die Band mit TikTok-Star Falco Punch, um ihre Single „God Save The Rave“zu promoten. Manager Jens Thele zufolge wollte die Band „nicht mit ihrer Zielgruppe altern. Außerdem hat Falco Punch eine enorme Reichweite, bis nach Indien und Pakistan.“Selbst nach drei Jahrzehnten im Geschäft eröffnen sich da noch einmal ganz neue Möglichkeiten – und Märkte. Allerdings ist es schwierig, den Erfolg der Kampagne zu messen, erzählt Thele. „Der Vertrieb früher war messbarer, in Plattenverkäufen oder Downloadzahlen, bei TikTok ist das nicht erkennbar.“
David Stammer sieht das ähnlich. „Auf TikTok explodieren Dinge, und man weiß nicht genau warum. Es gibt noch keine etablierten Mechanismen“– einer der vielen Gründe, warum die Popakademie in diesem Semester mit der Plattform kooperiert, um zusammen in einem Projekt herauszufinden, wie Nischenmusik, in diesem Falle Schlager, auf TikTok funktionieren können. Nun wird sich mancher mit Blick auf die zwei Regalmeter Amigos-CD im Schrank des Onkels fragen, wie Schlager eine Nische sein kann. Nun, auf TikTok ist er das zweifelsohne.
Mit Hip-Hop hingegen kann man nichts falsch machen, wie der Erfolg des Popakademie-Eigengewächses Stroppo zeigt. Ein Wackelvideo mit Tieraufnahmen, simple Textzeilen voller TikTok-Humor und aktuellen Hip-Hop-Referenzen, Autotune auf der Stimme und Trap-Basslines als Basis. Die Plattform beeinflusst den Klang ihrer Hits. TikTok wird auf dem Smartphone konsumiert, also wird der Sound auf die Ansprüche der mikroskopisch kleinen Handylautsprechern zugeschnitten.
Mit satten Subbässen, die mehr gefühlt als gehört werden, braucht man also gar nicht anzufangen. Man besinnt sich zurück auf den analogen Roland 808-Drumcomputer, der schon auf den späten Marvin GayeHits zu hören war.
Stammer hat beobachtet, dass „beim Produktionsprozess gleich die 15-Sekunden-Ausschnitte mitgedacht werden, mit Tanzanweisungen und catchy Sounds. Das kann dann, wie im Falle von Drake, schon fast anbiedernd wirken.“Der kanadische R&B-Sänger hat zwar Erfolg bei der jungen Zielgruppe, Newcomer haben es trotzdem deutlich leichter auf TikTok.
Im Zusammenhang mit der Zielgruppe setzt der Mannheimer – neben dem undurchsichtigen Datenschutz auf der Plattform – den schwerwiegendsten Kritikpunkt an. „TikTok macht die Sache unheimlich einfach, Videos hochzuladen. Da passiert es dann, dass junge Nutzer vielleicht zu viel von sich zeigen.“Auch wenn ernst zu nehmende Künstler kein Material von zu jungen Fans verwenden würden, wie Stammer ergänzt, die Hemmschwelle liegt doch niedrig. Und das Internet vergisst eben nichts. Vergessen sollte man genau das bei aller Begeisterung nicht.