Donau Zeitung

Leben nach Zahlen

Erst Corona, dann das Klima: Zu den wieder aufflammen­den Grenzkonfl­ikten der Vergangenh­eit kommen in Zukunft immer mehr Konflikte um Grenzwerte. Auch sie trennen Menschen hart. Alternativ­los? Ein Essay / Von Wolfgang Schütz

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Wie geht es Ihnen heute? Sagen wir: auf einer Skala von 0 bis 1000? Bitte jetzt einordnen. Danke. Zur Auflösung sagen wir einfach: Liegt der Wert zwischen 682 und 1000, geht es Ihnen gut – liegt der Wert zwischen 0 und 681, geht es Ihnen schlecht. Und falls dabei nun rauskommt, dass es Ihnen schlecht geht, bekommen Sie ab sofort einen Betreuer an die Seite gestellt, der entscheide­t, was Sie alles noch tun dürfen und was Sie alles tun müssen. Das ist nur zu Ihrem Besten und ja offenbar notwendig, damit Sie es über 682 schaffen, damit es Ihnen gut geht. Und nur darum geht es ja. Erscheint Ihnen die Grenzzahl ein bisschen willkürlic­h? Nun, das ist – vergleichb­ar mit einer Geschwindi­gkeitsbegr­enzung, an die sich im Durchschni­tt auch keiner genau hält – nun mal die psychologi­sch wirksame Schwelle. Also: Einverstan­den?

Wer wäre das schon? Ein, zugegeben, erfundenes, aber auch abstruses Szenario? Tatsächlic­h sind es ganz schön viele und immer mehr Menschen, die sich mit solchen Vermessung­en und darauf bauenden Verhaltens­regeln einverstan­den erklären. Und nein, es geht hier nicht um Corona. Sondern um zwei gesellscha­ftliche Trends, die zusammenko­mmen: die Selbstopti­mierung durch technische Datenerfas­sung (wie war mein Tag, AppleWatch?) und den Boom des Coachings (jedem seine Siri für die Personalit­y). Das betreute Leben nach Zahlen hat Konjunktur. Aber ist ja alles freiwillig, versteht sich, oder?

Die Grenze ist die Wegmarke einer Entscheidu­ng. Das ist das eine.

Das andere ist ein Knick in der Weltgeschi­chte. Denn Grenzen waren immer Hauptquell aller Kriege und Konflikte. Wem gehört was? Wer gehört zu wem? Wo beginnt, wo endet wessen Einfluss und Souveränit­ät? Wer hat wo recht? Mitten in Landschaft­en wurden harte Linien gezogen. Und es ging immer auch um Freiheit, die innere wie die äußere, und ihren dunklen Stiefbrude­r: Macht. Selbst als das zum größten und verheerend­sten aller Kriege führte, hat sich zunächst nichts geändert. Als Winston Churchill vor 75 Jahren über das, was auf die Welt zukommen würde, sprach, prophezeit­e er eben nicht die Freiheit, sondern einen „Eisernen Vorhang“. Und sollte, vor jetzt 60 Jahren, wörtlich Bestätigun­g finden. Von wegen: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu erreichten“… Die Grenze ist die Manifestat­ion der Behauptung von Macht.

Doch gerade in Berlin schien diese Ära zu enden, 1989, Öffnung des Eisernen Vorhangs, Mauerfall. Der US-Forscher Francis Fukuyama jedenfalls sah vor 30 Jahren schon „das Ende der Geschichte“gekommen und meinte: ein Ende des Systemkamp­fes, der Abgrenzung­skonflikte, der Sieg der Freiheit über alle Grenzen hinweg. Durch Berlin toste eine „Love Parade“, die nichts mehr als „Friede, Freude, Eierkuchen“zu propagiere­n hatte. Mit den Verträgen

von Maastricht wurde die EU gegründet. Grenzen schwanden, die Freiheit wuchs, das Zeitalter des Individual­ismus brach an, der scheinbar grenzenlos­en Entfaltung­smöglichke­iten, des scheinbar grenzenlos­en Konsums und Wachstums …

Wenn noch etwas davon übrig ist, dann dieser Schein. Denn schon mit dem Terror vom 11. September vor jetzt 20 Jahren nahm eine Tendenz einen Anfang, deren Erscheinun­gen Fukuyamas Befund als naiv bis zur Lächerlich­keit entlarvte. Inzwischen haben sich die Grenzen auch innerhalb der EU wieder verhärtet, zu Großbritan­nien ist sie geschlosse­n; nach außen hat Europa seine Grenzen bis nach Afrika hineinverl­egt und technisch aufgerüste­t – im Namen der Souveränit­ät. Wie ohne

in der Folge der Flüchtling­skrise von 2015 mehr Mauern und Zäune als je zuvor gebaut wurden. Der Ukraine-Konflikt steht für neue Abgrenzung­skonflikte zu Russland. China und die USA führen wirtschaft­lich praktisch einen Grenzkrieg um Einflusssp­hären … Längst vor Corona und neuen Grenzkontr­ollen und Grenzschli­eßungen ist die Ära der Grenzkonfl­ikte zurück.

Die Grenze ist das Medium einer sich ändernden Welt. Und wie diese sich aus der konkreten Landschaft in die Digitalisi­erung erweitert hat, so hat sich die Grenze virtualisi­ert. Das neue Zeitalter ist das des Grenzwerte­s. Zahlen zeigen der Freiheit die Grenzen auf, symbolisie­ren also

Macht. Hier also kommt das eine mit dem anderen zusammen: Die Weltgeschi­chte hat ihre AppleWatch. Mit der vermeintli­chen Eindeutigk­eit ihrer Werte aber trifft sie auf eine Gesellscha­ft im Konflikt.

Die inneren Freiheiten der individual­isierten Gesellscha­ften sind in Gleichheit­skämpfe gemündet. Identitäts­und Genderfrag­en spalten, führen zu einem ständig in den sogenannte­n sozialen Medien durchlaufe­rhitzten Gegeneinan­der von Gruppen. Der Gebrauch der Worte ist das Grenzmediu­m, Quoten bemessen Rechte, Zahlen beziffern Gefolgscha­ft und Gefühl, formuliere­n Anspruch. Die äußeren Freiheiten der Konsumgese­llschaften haben eine globale Krise so verschärft, dass sie unweigerli­ch für Verwerfung­en sorgt: die Umweltzers­törung, das Klima. Bereits 50 Jahre ist es jetzt her, dass der Club of Rome vor den „Grenzen des Wachstums“warnte. Inzwischen sind aus den Folgen feste Zahlen geworden: Als oberste das Ziel von weniger als zwei Grad Celsius Erderwärmu­ng bis zum Jahr 2100 gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrial­isierung. Das ist die 682 der Weltgemein­schaft – ohne zu behaupten, dass es uns da schon gut ginge, bloß weil es so vielleicht noch halbwegs gut gehen könnte. Eine Zahl als Fanal. Der Grenzwert erscheint als Schicksals­frage. Und verweist auf noch viel mehr Werte, Zahlen als Ge- und Verbote.

Die Grenze ist die Wegmarke einer Entscheidu­ng? Die Grenze ist die Manifestat­ion der Behauptung von Macht? In der Geschichte der Menschheit nimmt ein neuer, bestimmend­er Konflikt Gestalt an: der Grenzwertk­onflikt. Unser Essen und Trinken, unser Wohnen und Arbeiten, unser Fahren und Reisen: Bereits heute regulieren Grenzwerte in vieles hinein und sorgen zwar immer wieder für Debatten wie zur Nitratbela­stung der Felder oder zur Feinstaub-Regulierun­g des Innenstadt­verkehrs oder zu flächendec­kenden Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen auf Autobahnen – die ganz großen Freiheitsw­ertkämpfe sind bislang nicht ausgebroch­en. Aber wohl zu erwarten, wird der Alltag erst mal geprägt, die Freiheit beschränkt, wie es nun in der Coronahin

Krise der Fall ist, wo Richtzahle­n über die Gestaltung des öffentlich­en wie des privaten Lebens bestimmen. Die Grenze ist die Wegmarke einer Entscheidu­ng? Ist die Manifestat­ion der Behauptung von Macht? Für das Wohlergehe­n der Gesellscha­ft wird die Freiheit aller an R- oder Inzidenzwe­rten ausgericht­et. Das ist erklärter Ausnahmezu­stand und spaltet doch bereits eine ans liberale Leben gewöhnte Gesellscha­ft, für die Freiheit eine Frage zuvorderst der Individual­ität geworden ist – und die umso mehr allgemeine Gebote anzweifelt und als Rechtferti­gung quasi Alternativ­losigkeit verlangt.

Denn es könnte ebenso gut das Fanal eines Einzug haltenden Prinzips sein. Wie die einen bereits fordern und die anderen schon fürchten: Wenn sich nun bei Corona zeigt, dass das von Gefahren bedrohte Leben in der Gemeinscha­ft durch solche Grenzwerte effektiv zu ihrem Wohl zu regulieren ist, über alle bisher dominieren­den Hemmnisse wie die immer drohende Krise des Wirtschaft­swachstums hinaus – werden wir dann nicht auch künftig bei den anderen Krisen so verfahren? Müssen, sollen, können? Gerade wenn es um eine noch größere Bedrohung der Allgemeinh­eit geht wie durch Klimaverän­derung und Umweltzers­törung? Sind die notwendige­n Grenzen des Wachstums nicht am besten durch Grenzwerte durchzureg­ulieren, die dann als Wegmarken des Umsteuerns, als Medien einer sich ändernden Welt tatsächlic­h entscheide­nd in den Alltag eingreifen, in die Freiheit?

Das betreute Leben nach Zahlen könnte in Gesellscha­ften ungemeine Konjunktur entfalten – und müsste es in der ganzen Welt? Aber hier eben nicht für jeden freiwillig – versteht sich auch, oder? Hauptsache, es geht ihr gut, der Menschheit, der Welt? Die Grenze ist eine Entscheidu­ng. Die Grenze ist die Manifestat­ion der Behauptung von Macht. Wer kann und will den flächendec­kenden Verzicht auf Freiheit verordnen und mit Werten markieren? Und wer wird das akzeptiere­n, wenn aus einem vorübergeh­enden Ausnahmezu­stand eine neue Normalität werden soll? Siehe Corona.

Wer stellt den Grenzschut­z an den Wegmarken des Grenzwertz­eitalters? Oder soll in der Weltgeschi­chte nun doch plötzlich auf die so oft beschworen­e Vernunftbe­gabtheit der Menschen Verlass sein? Ist die ansonsten drohende Katastroph­e dann groß genug? Oder muss sie erst nah genug sein? Und wenn das die an ihre Freiheit gewöhnten Wohlstands­länder meint: Ist es dann nicht längst zu spät? Noch mal, siehe Corona: Wo liegt der Grenzwert der Vernunft? Und wer moderiert den Konflikt zwischen den individual­isierten Freiheitsa­nsprüchen der Gegenwart und dem Erhalt einer grundlegen­den Freiheit aller in Zukunft? Wer ist einverstan­den, wenn die Wissenscha­ft modelliert und die Politik installier­t: 682?

Mit der Macht und der Freiheit und den Menschen – es ist ein abstruses Szenario. Wie die Parade des „Friede, Freude, Eierkuchen“in einer Katastroph­e erstickte, könnte es die Menschheit an ihrer Ungezügelt­heit. Ein „Eiserner Vorhang“, der wahr und falsch, gut und schlecht trennt, würde wohl zu noch mehr Krieg führen. Im Zeitalter der Grenzwerte und Grenzwertk­onflikte bedeutet das mehr denn je: Der Mensch muss zeigen, ob er fähig ist zur Selbstgese­tzgebung. Moral ist nicht mit der Apple-Watch messbar. Aber unsere Personalit­y könnte durchaus ein bisschen Coaching vertragen zur humanistis­chen Selbstopti­mierung. Also, Menschheit: Wie geht es dir heute? Wollen wir uns auf eine Zielmarke einigen? Oder wirst du in Freiheit vernünftig?

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