Eindringlich, bildmächtig und vollkommen anders
Wegen der Pandemie findet in diesem Jahr nur eine digitale Ausgabe der Reihe statt. Statt Live-Auftritten gibt es fürs Publikum eigens konzipierte Filme – in erstaunlich hoher Qualität. Ein Auftakt, der gespannt macht
Augsburg Noch einmal schnell die Lautsprecher kontrolliert, eine Tasse Tee geholt, eine bequeme Schreibtischstuhlhöhe eingestellt – dann sind die Festivalvorbereitungen abgeschlossen: Auch wenn die abendlichen Ausgangsbeschränkungen in Augsburg aufgehoben sind, vor Haus muss für das Brechtfestival 2021 niemand mehr gehen. Es findet pandemiebedingt rein digital statt. Bis auf ein paar Übertragungsaussetzer am ersten Festivalabend hat das für eine Premiere erstaunlich auch gut funktioniert.
Ursprünglich wollten die beiden Festivalmacher Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die vergangenes Jahr mit einem neuen Konzept das Festival umgekrempelt haben, dort weitermachen: keine Gastspiele, stattdessen an den Wochenenden geballtes Programm, also Spektakel, kürzere, zum Teil auch eher improvisierte Produktionen von einer Vielzahl von Künstlern. Jetzt hat sich diese Herangehensweise als Glücksfall erwiesen. Denn als Anfang Oktober bei wieder steigenden Corona-Fallzahlen die Entscheidung fiel, das Festival rein digital stattfinden zu lassen, mussten Kühnel und Kuttner nicht bei null anfangen (das wäre der Fall gewesen, wenn sie nur auf Theater-Gastspiele gesetzt hätten). Die beiden haben die Künstler des Festivals gebeten, ihre Beiträge als Filme zu konzipie
die nun nicht geballt an den Wochenenden, sondern verteilt über den kompletten Festivalzeitraum vom 26. Februar bis zum 7. März ausgestrahlt werden.
Selbstverständlich kann das digitale Festival nicht das Live-Bühnenerlebnis ersetzen. Es ist etwas anderes, Neues. Auf der Strecke bleibt zum Beispiel so etwas wie die Festivalstimmung, auf der Strecke bleibt auch der Ort, in diesem Fall Augsburg. Was aber auch wieder Vorteile hat. Nie dürfte das Publikum des Augsburger Brechtfestivals so weit über die Republik verteilt gewesen sein wie in diesem Jahr.
Kühnel und Kuttner haben zusätzlich zu den Filmen, die den künstlerischen Kern des Festivals ausmachen, vorneweg einen LiveTalk geschaltet, der jeden Tag stattfindet. Das Festival ist also auch aktuell, hinterher gibt es noch die Möglichkeit, sich auf einer Internetplattform über Kamera und Mikrofon zu treffen. Nie war es einfacher, mit Festivalkünstlern ins Gespräch zu kommen als an diesen virtuellen Tischen. Der Abstand ist da noch einmal verringert, man duzt sich. Das funktioniert (so die heimische Technik es zulässt …).
Was bekamen die 1500 Festivalbesucher, die bislang einen Festivalpass gebucht haben, geboten? Ein breites Spektrum an Filmen. Das reichte vom bildmächtigen Kunstfilm bis zum nächtlichen Geisterkonzert auf Augsburger Hausfassaden. Am Auftaktabend haben die beiden Festivalmacher ihren Beitrag präsentiert. Statt der ursprünglich mit dem Staatstheater Augsburg geplanten Inszenierung von Heiner Müllers postdramatischer Textcollage „Verkommenes Ufer/Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten“haben sie mit den Schauspielerinnen Elif Esmen, Natalie Hünig und Christina Jung diesen Stoff in einen bildstarken, knapp 45-minütigen Kunstfilm übersetzt. Die Musiker Lila-Zoé Krauß und Helena Ratka haben das mit einem Soundtrack unterlegt, der an eine Mischung aus Portishead und Björk erinnerte. Im Mittelpunkt steht diese unfassbare Figur Medea, die Barbarin, die Jason in der Ferne heiratet und wieder verstößt, als er mit ihr nach Korinth gekommen ist, weil er dort die Tochter des Königs heiraten möchte. Medea, die Barbarin, derer man sich im zivilisierten Griechenland als Ehemann schämt, Medea die Barbarin, die aus Rache ihre gemeinsamen Kinder ermordet. Müller hat diese Frauengestalt in seiner Collage in die Gegenwart geholt, Kühnel und Kuttner zeigen in der Bilderflut sowohl eine zutiefst einsame Medea als auch eine Welt, die gar nicht so weit von roher Gewalt entfernt ist, ob nun beim Schlachten von Tieren oder dem Kampf im Krieg.
Die Beiträge der Schauspielerinnen Corinna Harfouch und Stefanie Reinsperger rückten das Festivalren, thema – die Frauen rund um Brecht – stärker in den Fokus. Im Talk erzählte Harfouch von ihrer Zeit am Berliner Ensemble in den 1980er Jahren und ihren Problemen mit dem kanonischen Brecht. Diese waren auch ihrem Film anzusehen, der Brechts Idee des epischen Theaters wunderbar in Form eines einfachen Figurentheaters aufnahm. Harfouch stellte Brechts „Die Mutter“dem „Fabriktagebuch“gegenüber, das die französische Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Weil in den frühen 1930er Jahren geschrieben hatte. Und: Brechts Mutter kam sehr schlecht weg. Wo Brecht nahelegte, dass sich alles verbesserte, wenn anstelle der Kapitalisten das sozialistische Kollektiv trete, erklärte Weil aus eigener einjähriger Fabrikarbeiteranschauung heraus, dass sich an den unwürdigen Arbeitsbedingungen nichts ändern würde, ob nun ein Kapitalist oder ein Genosse die Firma führe.
Die österreichische Schauspielerin Stefanie Reinsperger, ein Star des Berliner Ensembles heute und dort in der Rolle des Baal gefeiert, rückte unter anderem einen Text von Margarete Steffin in den Mittelpunkt. In einer langen Kamerafahrt legte Reinsperger eindringlich diese mit „Ich bin ein Dreck“übertitelte Lebensbeichte ab, bis es schmerzte, bei so viel Schonungslosigkeit weiter zuzuhören.
Dazu gab es Musikvideos zu sehen, etwa von den Dakh Daughters aus Kiew, die mit hohem Unterhaltungswert ihre Mischung aus Folklore und Punk, Theaterperformance und Puppenspiel mit weiß geschminkten Gesichtern zelebrierten.
Die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot brachte einen Film ein, der nicht nur unter künstlerischen, sondern gleichzeitig auch dokumentarischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Bert Zander, der am Deutschen Theater in Berlin für Videos und Videokunst zuständig ist, brachte die Musiker der Kapelle in Form von Videos nach Augsburg und hat dort, während die nächtliche Ausgangssperre galt, die Musiker auf Hausfassaden gebeamt und gleichzeitig wieder abgefilmt. Die Musiker, aber auch die Kunst insgesamt erscheint wie ein nächtliches Gespenst, das menschenleere Orte beleben kann. Gleichzeitig bekommt die nächtliche Stadt, die man zu der Zeit nicht sehen durfte, ein Gesicht – ein Dokument des Lockdowns.
In den Gesprächen hinterher war von Künstlerseite zu hören, dass das digitale Format ihnen deutlich mehr Arbeit beschert hat. Das Proben für ein Konzert sei etwas anderes als das Drehen eines 20-minütigen Konzertfilms. Gleiches gilt für die Filme der Festivalmacher sowie von Corinna Harfouch und Stefanie Reinsperger. Ein Auftakt, der nicht enttäuscht hat und gespannt darauf macht, wie es bis zum 7. März auf www.brechtfestival.de weitergeht.