Wann wird’s mal wieder richtig Fußball?
Derby, Flutlicht, ausverkauftes Haus – nach einem Jahr darf unser Autor endlich wieder in „sein“Stadion. Doch schon am Tor zum Wienerwald fühlt sich alles falsch an
München Das S-Bahn–Derby ist ausverkauft. Für das Duell mit der SpVgg Unterhaching hatten die Münchner Löwen sogenannte Geistertickets angeboten. 15000 Menschen zahlen Eintritt, obwohl sie nicht eintreten dürfen. Trotzdem gehen alle Karten weg. Mehr Herz als Verstand. Ins Stadion dürfen nur die Mannschaften, Funktionäre und ein paar Medienvertreter. Wie ich. Ein Jahr lang war ich nicht mehr in „meinem“Grünwalder Stadion. Nun also das prestigeträchtige Derby gegen Unterhaching. Mein großes Comeback. Bei Flutlicht. Wie damals 1985, als ich zum ersten Mal hier war. „Als kleiner Bub an Vaters Hand“, wie es einem der nicht ganz so kitschigen Fanlieder aus diesen Jahren heißt. Wie sich meine Rückkehr anfühlt? Irgendwie gar nicht.
Ich wusste all die Jahre gar nicht, dass der Wienerwald-Biergarten ein Tor hat. Nun ist es geschlossen.
Hier an der Kreuzung im Schatten des Stadions treffen sich normalerweise hunderte Menschen vor dem Anpfiff auf ein paar Bier und Leberkässemmeln. Natürlich musste mir klar sein, dass dieser Laden heute zu hat, wie alle anderen Restaurants und Kneipen eben auch. Und doch erwischt mich der Anblick kalt. Fußball ist ja auch immer die Erinnerung an Fußball. Und zu diesen Erinnerungen gehört das Gegröle von Fans in weiß-blauen Kutten in diesem Wienerwald-Biergarten nun mal genauso wie der Geruch von Zigarillos und dieser Typ, der auf einem um die Hüfte geschnallten Tablett überschwappende Bierbecher durch die Sitzreihen trägt. Für die meisten Fans zählt nicht nur das, was auf dem Platz passiert, sondern auch das Drumherum.
Das Sechzger, wie die Münchner die legendäre Spielstätte im Stadtteil Giesing nennen, ist eines der aussterbenden Stadien, die nicht irgendwo verkehrsgünstig an einer
Autobahnausfahrt hochgezogen wurden. Hier gibt es Kneipen, die Trepperlwirt oder Blue Adria heißen. Einen McDonalds. Einen Waschsalon. Immerhin der hat geöffnet. Im Stadion selbst durften Fanklubs diesmal ihre Fahnen in der Westkurve aufhängen. Als die Löwen in Führung gehen, rennt Torschütze Dennis Erdmann instinktiv dorthin. Doch sein Jubel verhallt wie die Pfeife des Sportlehrers damals in der miefigen Schulturnhalle.
Mitten im Spiel steigen unvermittelt Silvesterraketen hinter der Tribüne in den dunklen Himmel, es folgen das Knallen von ein paar Böllern und Polizeisirenen – das Feuerwerk war dann wohl eher nicht angemeldet. Ich habe Zeit, mir solche Gedanken zu machen. Stadion ohne Fans ist wie Fußballschauen auf dem Sofa, nur in kalt und ohne Chips – möglich also, aber doch sinnlos.
Eigentlich würde Giesing beben, als Sascha Mölders 1860 nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich wieder in Führung bringt. Per Fallrückzieher! Zu hören sind aber nur die paar Zuschauer, die das Spiel aus dem Dachfenster im fünften Stock eines alten, grünen Hauses an der Grünwalder Straße verfolgen. Die Löwen gewinnen das S-Bahn-Derby verdient mit 3:1. Mit dem Schlusspfiff verlasse ich das Stadion. Ich komme wohl erst wieder, wenn ich hier nicht mehr alleine bin.