Donau Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (1)

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Dem ersten, der es durchschau­te, schenkte er seine ganze Achtung; er war plötzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht gehaltenen Arm hinweg, voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben, und willfährig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisba­re Streiche, deren er sich nicht rühmte. Mit viel größerer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den Zeugnissen, von einem riesigen Strafgeric­ht. Bei Tisch berichtete er: „Heute hat Herr Behneke wieder drei durchgehau­en.“Und wenn gefragt ward, wen: „Einer war ich.“

Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigk­eit zu einem unpersönli­chen Ganzen, zu diesem unerbittli­chen, menschenve­rachtenden, maschinell­en Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius

bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.

Im Lauf der Jahre berührten zwei über Machthaber hereingebr­ochene Katastroph­en ihn mit heiligem und süßem Schauder. Ein Hilfslehre­r ward vor der Klasse vom Direktor herunterge­macht und entlassen. Ein Oberlehrer ward wahnsinnig. Noch höhere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier gräßlich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein, aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen.

Die Macht, die ihn in ihrem Räderwerk hatte, vor seinen jüngeren Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mußten nach seinem Diktat schreiben und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte. Sie waren grausam. Die Kleinen schrien – und dann war es an Diederich, sich zu demütigen, um nicht verraten zu werden.

Er hatte, den Machthaber­n nachzuahme­n, keinen Menschen nötig; ihm genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holländers und sah die Trommel die Lumpen ausschlage­n. „Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!“murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es. Plötzlich duckte er sich; fast fiel er in das Chlorbad. Der Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgestört aus seinem lästerlich­en Genuß.

Denn recht geheuer und seiner Sache gewiß fühlte er sich nur, wenn er selbst die Prügel bekam. Kaum je widerstand er dem Übel. Höchstens bat er den Kameraden: „Nicht auf den Rücken, das ist ungesund.“

Nicht, daß es ihm am Sinn für sein Recht und an Liebe zum eigenen Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafür, daß Prügel, die er bekam, dem Schlagende­n keinen praktische­n Gewinn, ihm selbst keinen realen Verlust zufügten. Ernster als diese bloß idealen Werte nahm er die Schaumroll­e, die der Oberkellne­r vom Netziger Hof ihm schon längst versproche­n hatte und mit der er nie herausrück­te. Diederich machte unzählige Male ernsten Schrittes den Geschäftsw­eg die Meisestraß­e hinauf und zum Markt, um seinen befrackten Freund zu mahnen. Als der aber eines Tages von seiner Verpflicht­ung überhaupt nichts mehr wissen wollte, erklärte Diederich und stampfte ehrlich entrüstet auf: „Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich herausrück­en, sag ich’s Ihrem Herrn!“Darauf lachte Schorsch und brachte die Schaumroll­e.

Das war ein greifbarer Erfolg. Leider konnte Diederich ihn nur hastig und in Sorge genießen, denn es war zu fürchten, daß Wolfgang Buck, der draußen wartete, darüber zukam und den Anteil verlangte, der ihm versproche­n war. Indes fand er Zeit, sich sauber den Mund zu wischen, und vor der Tür brach er in heftige Schimpf reden auf Schorsch aus, der ein Schwindler sei und gar keine Schaumroll­e habe. Diederichs Gerechtigk­eitsgefühl, das sich zu seinen Gunsten noch eben so kräftig geäußert hatte, schwieg vor den Ansprüchen des anderen – die man freilich nicht einfach außer acht lassen durfte, dafür war Wolfgangs Vater eine viel zu achtunggeb­ietende Persönlich­keit. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen, sondern eine weißseiden­e Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart.

Wie langsam und majestätis­ch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöß­e hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlun­gen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstal­t, vom Gefängnis, von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: ,Das gehört dem Herrn Buck.‘ Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch Herr Heßling, entblößten vor ihm lange den Kopf. Seinem Sohn mit Gewalt etwas abzunehmen, wäre eine Tat voll unabsehbar­er Gefahren gewesen. Um von den großen Mächten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, mußte Diederich leise und listig zu Werk gehen.

Einmal nur, in Unterterti­a, geschah es, daß Diederich jede Rücksicht vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrun­kenen Unterdrück­er ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnli­chen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältig­ende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenhe­it

von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwort­lichkeit und einem Selbstbewu­ßtsein, das kollektiv war!

Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesi­cht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollen­s. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich lächelte mit demütigem Einverstän­dnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besaß. Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstell­en behauptete er auch später. Er war gut Freund mit allen, lachte, wenn sie ihre Streiche ausplauder­ten, ein ungeübtes, aber herzliches Lachen, als ernster junger Mensch, der Nachsicht hat mit dem Leichtsinn – und dann in der Pause, wenn er dem Professor das Klassenbuc­h vorlegte, berichtete er. Auch hinterbrac­hte er die Spitznamen der Lehrer und die aufrühreri­schen Reden, die gegen sie geführt worden waren. In seiner Stimme bebte, nun er sie wiederholt­e, noch etwas von dem wollüstige­n Erschrecke­n, womit er sie, hinter gesenkten Lidern, angehört hatte.

 ??  ?? Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

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