Donau Zeitung

Telefonier­en gegen die Einsamkeit

Viele Senioren sind im Alter allein, durch die Pandemie sind sie noch stärker isoliert. Der Verein Retla hilft mit Telefonpat­enschaften. Wie eine Frau aus Augsburg und eine Studentin aus München zueinander­gefunden haben

- VON SUSANNE KLÖPFER

Augsburg/München Wenn Karin Tietke, 80, und Clara Hartmann, 22, übereinand­er reden, hört man ihnen die Sympathie füreinande­r an. „Clara ist aufmerksam und achtet auf Menschen“, beschreibt Tietke. „Sie ist eine total starke und weltoffene Persönlich­keit“, sagt Hartmann. Doch die Frauen, die knapp 58 Lebensjahr­e voneinande­r trennen, haben sich noch nie gesehen. Seit knapp zwei Monaten telefonier­en sie jeden Freitagnac­hmittag. Zueinander­gefunden haben sie durch die Aktion „Telefon-Engel“, die der Münchner Verein Retla im April im vergangene­n Jahr gestartet hat, um einsamen Senioren während der Corona-Pandemie zu helfen.

„Soziale Isolation und das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, ist schwierig für Senioren. Durch die Pandemie wird das nun verstärkt“, sagt Judith Prem, Initiatori­n und im Vorstand des Fördervere­ins Retla, der Name steht für Alter, rückwärts geschriebe­n. Prem möchte eine neue Perspektiv­e für das Alter schaffen und setzt sich für Senioren mit verschiede­nen Projekten ein. 5,8 Millionen Menschen über 65 Jahre leben in Deutschlan­d dem Statistisc­hen Bundesamt zufolge allein. Etwa jede dritte Person.

Einsame Senioren können sich kostenlos telefonisc­h bei dem Projekt „Telefon-Engel“anmelden. Danach werden passende Gesprächsp­artner gesucht, die anschließe­nd bei den Senioren anrufen. Die Idee zur Aktion kam Prem am Frühstücks­tisch mit ihrer Familie während des ersten Lockdowns. Innerhalb von zwei Wochen meldeten sich über 300 Helfer. Mittlerwei­le haben sich so etwa 600 Telefonpat­enschaften in ganz Deutschlan­d gefunden, über 1000 Helfer vom Jugendlich­en bis zur 96-Jährigen unterstütz­en das Projekt. Vermittelt werden Patenschaf­ten zwischen Personen, die zueinander­passen könnten und in der Nähe voneinande­r wohnen, sodass später nach Wunsch auch ein Treffen möglich ist. Einige Paare telefonier­en täglich, andere wiederum nur einmal die Woche.

Während des zweiten Lockdowns riefen Prem zufolge auffallend wenig Senioren an. „Viele empfinden eine große Scham, sich zu melden und zuzugeben, dass sie einsam sind.“Anrufer seien im Vergleich zum ersten Lockdown viel verzweifel­ter. Einige hätten den Zettel mit der Nummer schon einige Monate lang herumliege­n. Prominente Schirmherr­en wie die Schauspiel­erin Michaela May und ihr Kollege Elmar Wepper unterstütz­en den Verein und appelliere­n an die Senioren, dass sie den Mut haben sollten, sich zu melden. Beide sind wöchentlic­h für ein paar Stunden über die Hotline zu erreichen.

Als sie Elmar Wepper in einem Radiobeitr­ag hörte, griff Karin Tietke zum Telefonhör­er. An den ersten Anruf von ihrem „TelefonEng­el“Clara Hartmann erinnert sie sich noch gut: „Als sie mich angerufen hat, habe ich gleich herzhaft gelacht. Ich habe ihr gesagt, dass sie wohl meine fünfte Enkelin ist.“

Schnell fanden die zwei Frauen Themen, über die sie sprechen konnten und entdeckten Gemeinsamk­eiten. Hartmann studiert Medizin im fünften Semester in München. Gelernt und gearbeitet hat Tietke unter anderem als Beschäftig­ungstherap­eutin für Menschen mit psychische­n und physischen Behinderun­gen in einer Psychiatri­e sowie als Erzieherin und sie engagierte sich ehrenamtli­ch als Seelsorger­in in der Klinik und am Telefon. „Ich bin jemand, der auf vielen Gebieten immer mit vielen Menschen zusammen war“, sagt sie. Allein sei sie damals in ihrem Leben nie gewesen.

„Ich bin verheirate­t, habe zwei Söhne und fünf Enkelkinde­r – ich jammere auf einem hohen Niveau“, sagt Tietke. Sehr einsam sei sie schon mehrere Jahre, durch Corona habe sich das aber verstärkt. Der Anruf bei der Telefonhot­line habe auch sie große Überwindun­g gekostet. Als sie mit ihrem Mann vor knapp 13 Jahre von München nach Augsburg in ihre Eigentumsw­ohnung zog, fiel es ihr damals schwer, Kontakte zu knüpfen. „Die Schwaben kommen nicht damit klar, dass ich alles immer geradehera­us sage“, verrät die gebürtige Hinterpomm­erin, die in St. Peter-Ording aufgewachs­en ist.

Durch verschiede­ne Krankheite­n wie Multiple Sklerose und Schicksals­schläge ist die lebenslust­ige Frau mittlerwei­le schwerbehi­ndert und sehr stark in ihrem Leben eingeschrä­nkt. Auto fahren kann sie nicht mehr selbst, und manchmal fehlen ihr durch die Einschränk­ung im

Sprachzent­rum die richtigen Worte. Besonders fehlt ihr das Radeln, das sie seit Kindesalte­r geliebt hat. Ob im Kirchencho­r singen, beim Lesekreis austausche­n oder Kindern in der Bibliothek vorlesen – alles kann die Seniorin nicht mehr machen. Angewiesen ist sie auf ihren 77-jährigen Mann, der ihr Pfleger ist, aber an Krebs erkrankt ist.

„Sie ist eine starke Frau, die weiß, was sie will, sie steht für sich ein und spricht Sachen klar aus. Ich finde das bewunderns­wert“, sagt Hartmann über ihre Telefonpat­in. Sie habe das Gefühl, dass sie gut zueinander­passten. Sie selbst wisse genauso, was sie wolle. So entstehe immer ein interessan­ter Austausch. Die Gespräche inspiriert­en sie oft.

Die Seniorin sagt dazu: „Ich bin noch beweglich im Geiste. Clara hilft mir dabei.“Sie sei froh darüber, sich bei der Telefonhot­line gemeldet zu haben, und hofft, dass andere Senioren auch den Mut dazu haben. Zu ihren zwei Söhnen, ihren Schwiegert­öchtern und ihren Enkeln hat sie eine gute Beziehung. Für ihre Enkel sei sie immer die Großmutter. Zwischen Clara und ihr spiele der Altersunte­rschied keine Rolle, sondern sie begegneten sich in Gesprächen auf Augenhöhe.

Die beiden Frauen haben bisher nur am Telefon gesprochen und wissen nicht einmal, wie die andere Person eigentlich aussieht. Tietke kann sich ein Treffen gut vorstellen. Hartmann stimmt ihr zu: „Es wäre total nett, sie mal persönlich zu treffen.“

OSenioren können sich kostenlos unter 089/18910026 bei der Hotline der „Telefon‰Engel“von Montag bis Freitag zwischen 10 und 18 Uhr melden.

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Symbolfoto: Sabine Lienert Einsame Senioren finden über das Projekt „Telefon‰Engel“des Vereins Retla Ge‰ sprächspar­tner.
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Clara Hartmann

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