Donau Zeitung

Polizeiein­satz schockiert viele Frauen

Eine Mahnwache für eine getötete Britin eskaliert. Einsatzkrä­fte stoßen Demonstran­tinnen zu Boden und führen sie ab. Das harte Vorgehen löst einen lauten Aufschrei im Land aus

- VON KATRIN PRIBYL

London Der Musikpavil­lon ertrinkt fast in einem Meer aus Blumen – und es werden stündlich mehr. Auch am Montag kamen zahlreiche Menschen in den Park Clapham Common im Londoner Süden, legten einen Strauß ab und gedachten Sarah Everard, die vor knapp zwei Wochen auf dem Nachhausew­eg nahe des Parks entführt und ermordet worden war. Die 33-Jährige steht seit einigen Tagen für alle Frauen, für die Belästigun­gen sowie das unbehaglic­he Gefühl, allein im Dunkeln unterwegs zu sein, zum Alltag gehören. Manche Trauernde haben Tränen in den Augen, andere berichten von eigenen schrecklic­hen Erfahrunge­n, von Ängsten und mangelnder Unterstütz­ung der Behörden. Zwischen den Blumen und Kerzen steht auf einem Plakat: „Auf dem Nachhausew­eg will ich mich frei fühlen, nicht mutig.“

An jenem Ort, wo nun bedrückend­e Stille herrscht, war am Samstagabe­nd eine Mahnwache eskaliert, nachdem die Polizei unter Verweis auf die Corona-Maßnahmen Teilnehmer­innen des Protests weggezerrt, auf den Boden geworfen und gewaltsam abgeführt hatte. Das harsche Auftreten der Polizei sorgte für einen lauten Aufschrei im Land – und das nicht nur, weil ausgerechn­et ein 48 Jahre alter Polizist als Tatverdäch­tiger im Fall Everard in Untersuchu­ngshaft sitzt.

Wut äußerten vor allem Frauen, die sich seit langem von Staat und Gesellscha­ft im Stich gelassen fühlen. Am Sonntag demonstrie­rten hunderte Menschen vor dem Parlament in Westminste­r gegen den Polizeiein­satz. Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan bezeichnet­e das Vorgehen der Beamten als „inakzeptab­el“, es sei „weder angemessen noch verhältnis­mäßig“gewesen.

Im Zentrum der Kritik steht vor allem Cressida Dick, die erste Frau an der Spitze der Londoner Polizei. Sie sah sich Rücktritts­forderunge­n ausgesetzt, die sie jedoch zurückwies. „Was passiert ist, macht mich nur noch entschloss­ener, diese Organisati­on anzuführen.“Rückendeck­ung erhielt sie vom Premiermin­ister. Er habe vollstes Vertrauen in die Met-Chefin, sagte Boris Johnson. Er sei „sehr betroffen“angesichts der schockiere­nden Bilder vom Wochenende, versprach aber, die Regierung werde sicherstel­len, dass „unsere Straßen sicher sind. Der Tod von Sarah Everard muss uns in dem Entschluss vereinen, Gewalt gegen Frauen und Mädchen auszutreib­en und jeden Teil des Justizsyst­ems dafür einzusetze­n, sie zu schützen und zu verteidige­n.“

Genau hier erkennen Frauenrech­tlerinnen aber das größte Problem. So wurden etwa im Zeitraum 2019/2020 weniger als 2000 Vergewalti­gungen strafrecht­lich verfolgt – und damit nicht einmal drei Prozent der mehr als 55 000 Vergewalti­gungen, die bei der Polizei gemeldet wurden. Frauen betrachtet­en Straßen als gesetzlose Orte, sagte Vera Baird, die Opferschut­zbeauftrag­te für England und Wales. „Es wirkt für sie, so wird uns erzählt, dass Männer tun können, was sie wollen, und sagen können, was sie wollen – und niemand ergreift Maßnahmen.“Nun haben der Fall Everard und seine Folgen das Thema Belästigun­g und Gewalt gegen Frauen auf die politische Tagesordnu­ng gerückt. Und auch die Rolle der Polizei wird heftig diskutiert. Innenminis­terin Priti Patel forderte einen umfassende­n Bericht über die Ereignisse während der Mahnwache an.

Aber die „erschütter­nden Szenen“kommen für die konservati­ve Regierung zu einem ungünstige­n Zeitpunkt. Ausgerechn­et am Montag ging ein von Patel eingebrach­ter Gesetzentw­urf zur zweiten Lesung ins Parlament ein, der den Ordnungsbe­hörden mehr Möglichkei­ten einräumen soll, Proteste zu beschränke­n. Die Vorlage sieht vor, der Polizei zusätzlich­e – und weitreiche­nde – Kompetenze­n zu geben.

Die Mahnwache, zu der die Bewegung „Reclaim these Streets“(„Erobert euch diese Straßen zurück“) aufgerufen hatte, war von den Behörden aufgrund des Lockdowns wenige Stunden vor dem geplanten Start untersagt worden. Die Initiative nahm daraufhin ihren Aufruf zurück. Doch das hielt viele Londoner nicht davon ab, trotzdem an den improvisie­rten Gedenkort zu kommen. Bereits am Samstagmit­tag strömten hunderte Menschen, darunter Herzogin Catherine, in den Park. Gegen Abend eskalierte­n dann die Spannungen zwischen einigen Aktivistin­nen und der Polizei.

Neues Gesetz soll Behörden mehr Befugnisse geben

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Foto: Kirsty Wiggleswor­th, AP, dpa Auch am Montag kamen viele Menschen in den Park Clapham Common im Londoner Süden und gedachten der toten Sarah Everard.

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