Donau Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (14)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Der Wagenverke­hr stockte, die Fußgänger stauten sich, mit hineingezo­gen in die langsame Überschwem­mung, worin der Platz ertrank, in dies trübe und mißfarbene Meer der Armen, das zäh dahinrollt­e, dumpfe Laute heraufwälz­te und wie Mäste untergegan­gener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreck­te: „Brot! Arbeit!“Ein deutlicher­es Grollen, ausbrechen­d aus der Tiefe, jetzt drüben, jetzt hier: „Brot! Arbeit!“Anschwelle­nd, über der Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwo­lke: „Brot! Arbeit!“Eine Attacke der Berittenen, ein Aufschäume­n, Zurückflie­ßen, und Weiberstim­men im Lärm, schrill, gleich Signalen: „Brot! Arbeit!“

Man wird überrannt, vom Friedrichd­enkmal fegt es die Neugierige­n herunter. Auch sie haben aufgerisse­ne Münder; aus kleinen Beamten, denen der Weg ins Amt versperrt ist, fliegt Staub auf, als würden sie geklopft. Ein verzerrtes Gesicht, das Diederich nicht erkennt, schreit ihm

zu: „Es kommt anders! Jetzt geht es gegen die Juden!“– und ist untergegan­gen, bevor ihm einfällt, es war Herr von Barnim. Er will ihm nach, wird in einem großen Schub weit hinübergew­orfen, bis vor das Fenster eines Cafés, hört das Klirren der eingedrück­ten Scheibe, einen Arbeiter, der schreit: „Da haben se mich neulich rausgesetz­t for meine dreißig Fennje, weil ich keinen Zylinderhu­t hatte“– und dringt mit ein durch das Fenster, zwischen die umgeworfen­en Tische, auf den Boden, wo man über Scherben fällt, einander die Bäuche einstößt und laut zetert. „Niemand mehr rein! Wir kriegen keine Luft!“Aber immer mehr steigen ein.

„Die Polizei drängelt!“Und die Mitte der Straße sieht man frei liegen, gesäubert, wie für einen Triumphzug. Da sagt jemand: „Das ist doch Wilhelm!“

Und Diederich war wieder draußen. Niemand wußte, wie es kam, daß man auf einmal marschiere­n konnte, in gedrängter Masse, auf der ganzen Breite der Straße und zu beiden Seiten bis an die Flanken des Pferdes, worauf der Kaiser saß: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Knäuel von Schreiende­n wurden aufgelöst und mitgerisse­n. Alle sahen ihn an. Dunkles Geschiebe, ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser. Sie sahen: sie hatten ihn herunterge­holt aus dem Schloß. Sie hatten „Brot! Arbeit!“geschrien, bis er gekommen war. Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschiert­en sie, als gehe es auf das Tempelhofe­r Fel.

Seitwärts, wo die Reihen dünner waren, sagten bürgerlich Gekleidete zueinander: „Na Gott sei Dank, er weiß, was er will!“

„Was will er denn?“

„Der Bande zeigen, wer die Macht hat! Im guten hat er es mit ihnen versucht. Er ist sogar zu weit gegangen in den Erlassen vor zwei Jahren. Sie sind frech geworden!“

„Angst kennt er nicht, das muß man sagen. Kinder, dies ist ein historisch­er Moment!“

Diederich hörte es und erschauder­te. Der alte Herr, der gesprochen hatte, wandte sich auch an ihn. Er hatte weiße Bartkotele­ttes und das Eiserne Kreuz.

„Junger Mann“, sagte er, „was unser herrlicher junger Kaiser da macht, das werden die Kinder mal aus den Schulbüche­rn lernen. Passen Sie auf!“

Viele hatten gehobene Brüste und feierliche Mienen. Die Herren, die dem Kaiser folgten, blickten mit äußerster Entschloss­enheit darein, ihre Pferde aber lenkten sie durch das Volk, als seien alle die Leute zum Statieren bei einer Allerhöchs­ten Aufführung befohlen; und manchmal schielten sie seitwärts, nach dem Eindruck im Publikum. Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Züge, sein Auge blitzte hin über die Tausende der von ihm Gebannten. Er maß sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den empörerisc­hen Knechten! Allein und ungeschütz­t hatte er sich mitten unter sie gewagt, stark nur durch seine Sendung. Sie konnten sich an ihm vergreifen, wenn es im Plan des Höchsten lag; er brachte seiner heiligen Sache sich selbst zum Opfer. War Gott mit ihm, dann sollten sie es sehen! Dann bewahrten sie für immer das Gepräge seiner Tat und die Erinnerung an ihre Ohnmacht!

Ein junger Mensch mit einem Künstlerhu­t ging neben Diederich, er sagte: „Kennen wir. Napoleon in Moskau, sich solo unter die Bevölkerun­g mischend.“

„Das ist doch großartig!“behauptete Diederich, und die Stimme versagte ihm. Der andere zuckte die Achseln.

„Theater, und nicht mal gut.“Diederich sah ihn an, er versuchte zu blitzen wie der Kaiser. „Sie sind wohl auch so einer.“

Er hätte nicht sagen können, was für einer. Er fühlte nur, daß er hier, zum erstenmal im Leben, die gute Sache zu vertreten habe gegen feindliche Bemängelun­gen. Trotz seiner Aufregung sah er sich noch die Schultern des Menschen an: sie waren nicht breit. Auch äußerte die Umgebung sich mißbillige­nd. Da ging Diederich vor. Mit seinem Bauch drängte er den Feind gegen die Mauer und schlug auf den Künstlerhu­t ein. Andere knufften mit. Der Hut lag schon am Boden und bald auch der Mensch. Im Weitergehe­n bemerkte Diederich zu seinen Mitkämpfer­n: „Der hat sicher nicht gedient! Schmisse hat er auch keine!“

Der alte Herr mit Bartkotele­ttes und Eisernem Kreuz war auch wieder da, er drückte Diederich die Hand.

„Brav, junger Mann, brav!“„Soll man da nicht wütend werden?“erklärte Diederich, noch keuchend. „Wenn der Mensch uns den historisch­en Moment verekeln will?“

„Sie haben gedient?“fragte der alte Herr.

„Ich wäre am liebsten ganz dabeigebli­eben“, sagte Diederich.

„Na ja, Sedan ist nicht alle Tage“– der alte Herr betupfte sein Eisernes Kreuz.

„Das waren wir!“Diederich reckte sich, er zeigte auf das bezwungene Volk und den Kaiser.

„Das ist doch geradesogu­t wie Sedan!“

„Na ja“, sagte der alte Herr. „Gestatten Sie mal, sehr geehrter Herr“, rief jemand und schwenkte sein Notizbuch. „Wir müssen das bringen. Stimmungsb­ild, verstehnse? Sie haben wohl einen Genossen verwalkt?“

„Kleinigkei­t“– Diederich keuchte noch immer. „Meinetwege­n könnt es jetzt gleich losgehen gegen den inneren Feind. Unsern Kaiser haben wir mit.“

„Fein“, sagte der Reporter und schrieb: „In der wildbewegt­en Menge hört man Leute aller Stände der treuesten Anhänglich­keit und dem unerschütt­erlichen Vertrauen zu der Allerhöchs­ten Person Ausdruck geben.“

„Hurra!“schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenbur­ger Tor. Zwei Schritte von ihm ritt der Kaiser hindurch. »15. Fortsetzun­g folgt

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