Fernweh schlägt Schuldgefühl
Nach dem Stillstand des Reiseverkehrs starten in München wieder Ferienflieger. Viele Urlauber sind zwiegespalten – und heben trotzdem ab. Über den Traum von perfekten Wellen, die Angst vor Kritik und die Frage, wie Corona das Reisen verändern wird
München Das Reisen hat seine Leichtigkeit verloren. Keiner der Touristen, die hier im Terminal 2 des Münchner Flughafens auf den Abflug warten, redet gern über seinen Urlaub. „Wir haben keine Lust auf die Vorwürfe“, sagt eine Frau, die nach ihrem Reisepass kramt. „Wir möchten einfach nur in Ruhe wegfahren.“Ihre Begleiterinnen drehen sich weg.
34 Flüge stehen an diesem Morgen an. Normalerweise heben hier hunderte Flieger zu allen Zielen der Welt ab. Doch nun huschen nur vereinzelt Reisende über die hellen Fliesen. Wartezeiten gibt es kaum, trotzdem haben es alle eilig.
Die meisten Schalter sind geschlossen, die Geschäfte dunkel und abgesperrt. Von den sechs großen Informationstafeln sind nur zwei in Benutzung. Vor dem Schalter für das Sperrgepäck liegen Surfbretter in großen Taschen auf dem Boden. Koffer, Rucksäcke, dazwischen ein Skateboard: Zwei junge Männer schieben ihr Gepäck vorwärts und unterhalten sich leise. Daneben lehnt sich eine Frau an ihren Partner und schaut nach draußen, wo Morgenröte die Wolken färbt. In der Warteschlange stehen vor allem junge Menschen und träumen von den Wellen, die einmal nichts mit Corona zu tun haben sollen.
Das Fernweh nach Sonne und Strand ist groß. Das zeigt allein die massive Nachfrage nach MallorcaFlügen. Seit die Reisewarnung für die Insel aufgehoben wurde, steigen die Buchungen enorm. Die Erregungskurve gleichermaßen. Jetzt nach Malle, wenn die Inzidenzwerte doch in ganz Deutschland steigen? Die Bundesregierung appelliert an die Bevölkerung, auf jede nicht notwendige Reise zu verzichten.
Es ist eine aufgeheizte Diskussion. Fernweh gegen Vernunft. Viele wollen nur eines: den Corona-Frust hinter sich lassen – und ab in den Süden. Wenigstens für ein paar Tage eine Illusion vom Leben, wie es vor der Pandemie einmal war: Reiselust schlägt Schuldgefühle. Die Anbieter stürzen sich auf den kleinen Rettungsring der Urlaubsflüge. Eurowings legte für Ostern spontan 300 Zusatzflüge nach Mallorca auf, auch Lufthansa, Condor und Ryanair kündigten mehr Flüge in die Ferienregion an. Denn die Situation ist dramatisch für die Tourismusindustrie: Die Fluggastzahlen in München sind im Jahr 2020 um mehr als 75 Prozent eingebrochen, in Nürnberg ist die Situation ähnlich. Der Allgäu-Airport in Memmingen machte ein Minus von 60 Prozent.
„Wir fliegen zu fünft nach Gran Canaria. Zum Arbeiten und zum Surfen“, sagt ein 25-Jähriger in der Flughafenschlange. Auch er nennt seinen Namen lieber nicht und meidet den Blickkontakt. Er verstehe das Misstrauen der Wartenden: „Wir wollen nicht in eine Schublade gesteckt werden, weil wir jetzt reisen.“Nach Flugscham nun Urlaubsscham? Die Situation ist verfahren: Das Auswärtige Amt spricht Reisewarnungen für fast alle Urlaubsregionen aus – auch für Gran Canaria. Eine malerische Insel mit Vulkanen und weißen Sandstränden. Die Corona-Situation vor Ort: Der Inzidenzwert liegt bei 61, nächtliche Ausgangssperre, keine Veranstaltungen. Für die Einreise benötigen Deutsche einen negativen PCR-Test, Gesundheitsformulare für die spanischen Behörden und die Unterkunft vor Ort. Wenn die Reisenden von Gran Canaria zurück nach Deutschland kommen, müssen sie – anders als Rückkehrer aus Mallorca – in Quarantäne. Das schreckt den jungen Mann mit der Wintermütze nicht ab. „Bei mir macht das auch nichts mehr“, sagt er. „Ich arbeite seit einem Jahr von zu Hause aus.“
Doch der Blick in die Zukunft macht Hoffnung. Alfred Bauer, der Vorsitzende des Bayerischen Zentrums für Tourismus in Kempten, sagt: „Wir werden wieder uneingeschränkt reisen, davon bin ich überzeugt.“Aus Sicht des Tourismusforschers ist es möglich, dass die Pandemie einige Trends verstärkt – und ein ganz neues Bewusstsein für das Reisen schafft.
„Reisen bedeutet Freiheit“, sagt Bauer, der Tourismusmanagement der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Kempten lehrt. „Neue Eindrücke und neue Erfahrungen sammeln, Abstand vom Alltag gewinnen.“Gerade in Zeiten von Corona sehnten sich die Menschen nach anderen Orten, nach Erholung. Es müssen nicht die Kanaren sein. „Das sieht man beispielsweise an der Zahl der Tagesausflüge in die nähere Umgebung. Viele wollen einfach raus in die Natur.“
Nicht von ungefähr erlebt das Spazierengehen während des Lockdowns eine Renaissance. Auch im Urlaub zieht es immer mehr Touristen ins Grüne – was der Umwelt selten guttut. Überfüllte Ausflugsziele und zugeparkte Skigebiete, obwohl gar kein Lift laufen darf, das waren die Folgen.
Die Gruppe am Münchner Flughafen lockt das Meer. Sie hat für ihren zweiwöchigen Urlaub auf Gran Canaria ein Ferienhaus gebucht. „Es ist zehn Minuten vom Strand weg“, sagt der junge Mann. In der ersten Woche wollen die fünf im Homeoffice arbeiten und in der zweiten die Zeit am Meer verbringen, auf den Wellen. Er klingt wehmütig. „Ich freue mich auf die Zeit weg von zu Hause.“Unter anderen Umständen wäre er nicht geflogen, sondern im Wohnmobil unterwegs, vielleicht in Frankreich.
Kehrt das Virus den Weg hin zu mehr Klimabewusstsein um? Tourismusforscher Bauer ist überzeugt: Die Pandemie wird den Trend zur Nachhaltigkeit verstärken. Bei Befragungen im Jahr 2019 gaben rund 74 Prozent der Flugreisenden an, wegen der mit dem Fliegen verbundenen Klimabelastung ein schlechtes Gewissen zu haben – was sie jedoch nicht vom Reisen abhielt. Bauer vermutet, dass sich das ändern wird: „Fridays for Future kommt wieder, der Klimawandel wird zurück in den Fokus rücken.“
Nach Untersuchungen des Bayerischen Zentrums für Tourismus sinkt der Anteil der Menschen, die in Zukunft so verreisen möchten wie vor Corona. Sprachen sich im Mai 2020 noch 59 Prozent dafür aus, waren es im Herbst nur mehr 50. „Das lässt mich hoffen“, sagt Bauer. Die erzwungene Entschleunigung durch das Coronavirus habe die Deutschen zum Nachdenken angeregt und vielleicht auch dazu, ihr eigenes Handeln neu zu beweran ten – „dass man nicht einfach für einen Wochenendtrip in den Flieger steigt“.
Zudem könnten die Reiseerfahrungen während des vergangenen Jahres beeinflussen, wo künftig Urlaub gemacht wird. Denn auch in der Pandemie waren die Menschen unterwegs: 71 Prozent der Bevölkerung planten 2020 eine Reise, ganze 63 Prozent gaben an, sie auch unternommen zu haben. Wie in der Vergangenheit war das eigene Land das beliebteste Urlaubsziel der Deutschen – doch im Corona-Jahr mehr als je zuvor.
An der Nordsee salzige Meerluft schnuppern, in den Bergen die Aussichten genießen: Gerade jüngere Altersgruppen seien auf einmal vermehrt in Deutschland unterwegs gewesen und hätten die Heimat entdeckt. Das sei auch den Einschränkungen geschuldet. Dennoch stimmen Bauer die Zahlen zuversichtlich: „Wenn die jungen Menschen das eigene Land positiv erlebt haben, entscheiden sie sich vielleicht auch in Zukunft für einen Urlaub hier.“
Die Fluggäste am Münchner Airport wohl eher nicht. Unter der großen Tafel mit den Fluginformationen steht eine Gruppe junger Menschen. Auch sie verbinden Homeoffice mit Urlaub – auf der spanischen Insel Fuerteventura. Einer von ihnen ist Simon Schörghofer, ein gebürtiger Österreicher, der bei einem Technik-Start-up in München arbeitet. An seinem Rucksack baumelt ein Volleyball. Schlechtes Gewissen? „Nein“, sagt er. Er freue sich sehr. „Ich war im November schon einmal auf Fuerteventura“, erzählt der 28-Jährige. „Das hat sich gut angefühlt. Wir waren viel mit dem Auto auf der Insel unterwegs, waren Surfen und Wandern.“Seine blauen Augen blitzen über der Maske hervor. „Ein bisschen rauskommen, etwas anderes sehen. Da geht es doch allen gleich.“
Andere Kulturen erleben, den Klang fremder Sprachen genießen, Kontakte knüpfen: Der Drang, in andere Länder zu verreisen, sei nach wie vor da, sagt Tourismusexperte Bauer. Doch der lange Stillstand hat seine Spuren hinterlassen: Mehrere Airlines, wie etwa TUI oder die Lufthansa, gaben bereits im vergangenen Jahr bekannt, dass sie ihre Flotten verkleinern werden. Das heißt, dass sich Streckennetze ändern, einige Ziele weniger häufig oder auch gar nicht mehr angeflogen werden. Auch die Preise könnten sich erhöhen. Wie Bauer sagt, gehen selbst Airlines davon aus, dass es einige Jahre dauern wird, bis die Passagierzahlen – wenn überhaupt – wieder auf das Niveau vor der Pandemie steigen.
Der Tourismusforscher denkt, dass Corona einen weiteren Trend stärker vorantreibt: die Digitalisierung. Der Königssee mit seinem kristallklaren Wasser, die kleine Insel von Lindau, die Alpen: In Deutschland führte der Besucheransturm in den vergangenen Monaten teilweise zu stark überfüllten Orten. Eine Situation, die sich im kommenden Sommer nach der Einschätzung Bauers wiederholen wird. Die digitale Besucherlenkung, ein wichtiges Aufgabenfeld im Tourismus, werde gerade in Zeiten des Coronavirus immer wichtiger.
Viele Ausflugsziele in Deutschland bemühten sich bereits, Gäste vor deren Trip über die Situation vor Ort zu informieren. „Damit sich die Ausflügler umentscheiden können, falls viel los ist“, erklärt Bauer. Für Bayern gebe es etwa die App „Ausflugsticker“, die in Echtzeit Daten an Verbraucher weitergibt. Zusätzlich untersuche die Hochschule in Kempten im Projekt „Low Touch Tourism“mit der Universität in Augsburg, wie Menschen auf Reisen Kontakte einschränken und gezielt in weniger gut besuchte Regionen fahren können.
Die Angst vor Infektionen hält vor allem ältere Menschen im Moment vom Reisen ab. Hinzu kommen die drohende Quarantäne und die Maskenpflicht, wie Befragungen ergaben. Doch Bauer vermutet, dass viele Deutsche sofort wieder reisen, wenn es uneingeschränkt möglich ist. Es fehle allen Menschen sehr – ihm selbst ebenso. Er ist sich ganz sicher: „Es wird vielleicht einige Jahre dauern. Aber die Unbeschwertheit kommt zurück.“
„Es wird vielleicht einige Jahre dauern. Aber die Unbeschwertheit kommt zurück.“
Alfred Bauer