Tübingen testet die Freiheit
Boris Palmer bürstet politisch gerne gegen den Strich. Das ist auch in der Pandemie so. Der Oberbürgermeister sagt, es müsse Alternativen zu ständigen Lockdowns geben. Seine Strategie lautet: testen und lockern. Ist der Modellversuch ein Vorbild auch für
Tübingen „Herr Palmer, dürfen wir uns bei Ihnen bedanken?“Die beiden älteren Damen, die den Tübinger Oberbürgermeister auf dem Marktplatz ansprechen, sind extra aus Filderstadt bei Stuttgart gekommen – um „mal wieder etwas zu erleben“. Man kann das Freudestrahlen hinter den Masken erahnen.
Es ist nicht das einzige Mal in dieser halben Stunde auf dem Marktplatz, dass Boris Palmer auf solche Weise angesprochen wird. Der Grünen-Politiker lächelt und bedankt sich. Hätte man ihn nicht auch schon anders erlebt, man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass ihm seine Beliebtheit nicht ganz geheuer ist.
Etwas erleben wollen auch Vanessa, 20, und Cynthia, 18, aus dem nahen Reutlingen. In diesen Zeiten kann das einfach schon bedeuten, mal wieder einen Kaffee trinken zu gehen, wie es die beiden Freundinnen vorhaben. Nur in der Außengastronomie, aber immerhin. Die Universitätsstadt bietet seit wenigen Tagen das, was sonst praktisch nirgendwo in Deutschland möglich ist: Neben den Cafés und den Kneipen dürfen seit Dienstag auch Museen, Kinos und Theater ihre lange verschlossenen Türen öffnen.
Während die restliche Republik bang in Richtung dritter Lockdown blickt, wird in der hübschen Studentenstadt mit ihren gut 90000 Einwohnern gelockert. Die Voraussetzungen sind zumindest besser als in vielen anderen Regionen. Als einer von fünf Kreisen in BadenWürttemberg bewegte sich der Landkreis Tübingen bis Mittwoch noch unter der 50er-Inzidenz. Am Wochenende lag der Wert bei 68.
Vor allem aber wird massenhaft getestet, um nicht die Kontrolle über die Ansteckungen zu verlieren. Letzteres ist der Grund, weshalb Boris Palmer und die Tübinger Notärztin Lisa Federle vom Land ihren dreiwöchigen Modellversuch genehmigt bekommen haben. Die Aufgabenstellung lautet in etwa: Schauen, ob man mit dem Einsatz von sehr vielen Tests die Rückkehr zu etwas mehr Normalität erlauben kann – oder ob die Infektionszahlen bei offener Außengastronomie, Theatern und Kinos sofort nach oben schnellen.
Wissenschaftlich begleitet wird das Ganze von Professor Peter Kremsner vom Tropeninstitut der Tübinger Universität. Der Infektiologe, der den Impfstoff des örtlichen Kandidaten Curevac in klinischen Studien untersucht, will die Werte genau im Blick behalten.
Kremsner steht hinter der Teststrategie. „Wir müssen testen, testen, testen“, sagt er seit langem. Doch Deutschland hängt hinter anderen Ländern wie Dänemark oder Österreich weit zurück. Dass in Tübingen durch ausgiebigeres Testen bereits seit einiger Zeit mehr Cluster erkannt werden, kann Hoffnung machen. Doch wie es ausgeht, ist noch nicht abzuschätzen.
Dies ist das Risiko, dem sich der Tübinger Oberbürgermeister aussetzt. Es könnte auch schiefgehen.
Dann wird sich keiner mehr freudestrahlend beim Rathauschef bedanken. Wie aggressiv die Stimmung werden kann, weiß Palmer.
Der Grüne, der dafür bekannt ist, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, hatte zu Beginn der Coronakrise in einem Interview mit einem Satz für Furore gesorgt: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, sagte Palmer damals im Sat.1-Frühstücksfernsehen. Was folgte, war ein Shitstorm sondersgleichen. Die Grünen kündigten ihm die Unterstützung auf. „Ein falscher Satz in einem sechsminütigen Interview – und man wird mit Morddrohungen überschüttet“, sagt Palmer rückblickend.
Seit ein paar Tagen bekomme er nun Mails von Leuten, erzählt er, die sich dafür entschuldigen, dass sie im vergangenen Frühjahr so über ihn hergefallen sind. Das dürfte daran liegen, dass der 48-Jährige inzwischen einiges richtig gemacht hat, wie ihm selbst scharfe Kritiker attestieren. Schon seit Monaten gibt es in Tübingen eine gezielte Teststrategie. Altenheime wurden auf diese Weise konsequenter geschützt als in anderen Teilen der Republik.
Konzept „Kostenlose Schnelltests für alle“hätte nachgewiesenermaßen einen spürbaren Effekt auf die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Tübingen, sagt Notärztin Lisa Federle. Sie hat das Programm auf die Beine gestellt.
Vor Weihnachten machte die Teststrategie im ganzen Land Schule. Nun schaut die halbe Republik nach Tübingen – und will wissen, ob dieser Modellversuch zur Nachahmung taugt. Kamerateams wandern durch die malerische Altstadt, Theaterintendanten und Kinobetreiber erhalten Anrufe von Kollegen aus ganz Deutschland. Auch in Augsburg hat Oberbürgermeisterin Eva Weber gerade angedeutet, sich die Erkenntnisse aus Tübingen anschauen zu wollen.
Boris Palmer will zeigen, dass es nach einem Jahr Pandemie Alternativen geben muss zu weiteren Lockdowns. Die müssten aber kontrolliert stattfinden. „Ich fand Lockerung ohne Testung immer falsch“, sagt er. Woran die Corona-Strategie in Deutschland kranke, ist nach Palmers Ansicht ausgerechnet eine Qualität, wofür die Nation in aller Welt immer bewundert wurde: Die Fähigkeit, alles generalstabsmäßig zu planen und durchzuführen – was den Verantwortlichen in diesem Fall aber auf die Füße falle.
„Bei uns wird geplant, es werden Vorschriften erarbeitet und Zuständigkeiten geregelt – aber das dauert und funktioniert nicht, wenn das Virus alle drei Tage eine neue Lage erzeugt“, lautet Palmers Analyse. Während sich Amerikaner und Briten nach dem Prinzip „Trial and error“(Versuch und Irrtum) mittlerweile erfolgreich durchwursteln, werde hierzulande erst mal die Bundesdruckerei mit fälschungssicheren Maskengutscheinen beauftragt, sodass drei Monate später noch immer nicht alle über 60-Jährigen mit kostenlosen Masken versorgt sind. In Tübingen hat man auch das selbst in die Hand genommen.
„Nicht fragen, sondern machen“, lautet Palmers Motto. Natürlich hat er auch die Schnelltests selbst aufgetrieben. Die Schwierigkeit sei nicht gewesen, an diese heranzukommen, sondern das nötige Kleingeld lockerzumachen. In diesem Fall sprang ein Tübinger Unternehmer für die Stadt ein und streckte die 1,5 Millionen Euro vor. Am Ende soll alles dem Bund in Rechnung gestellt werden.
Auf dem Tübinger Marktplatz stehen die Leute Schlange. InzwiDas schen gibt es über die Stadt verteilt acht Teststationen, betrieben vom Roten Kreuz und zwei Firmen. Etwa 6000 Tests werden hier täglich vorgenommen.
Auch Ehrenamtliche wie die Ärztin Ariane Feurer helfen mit, weil sie das Projekt unterstützen wollen. Das Anstehen dauert mal kürzer, mal länger. Im günstigsten Fall ist man nach 20 Minuten durch und bekommt sein „Tübinger Tagesticket“ausgehändigt, das man in Kneipen, Bibliotheken oder Kinos parat haben muss.
Auch in den Läden muss man den Zettel vorzeigen, was nicht überall gut ankommt. Barbara Rongen, Inhaberin eines Modegeschäfts und Mitglied im Vorstand des örtlichen Handels- und Gewerbevereins, kennt die Beschwerden – von Kunden, aber auch von Kollegen, die nun jeden auf ein gültiges Tagesticket kontrollieren sollen.
Auch von spürbaren wirtschaftlichen Auswirkungen berichtet die 44-Jährige. Während sie in der ersten Woche der Lockerungen einen „Wahnsinnsumsatz“gemacht habe, sei das Geschäft seit Einführung der Pflichttests merklich eingebrochen. „Jemand, der halt bloß eine Unterhose kaufen will, für den lohnt sich so ein Test nicht“, sagt Rongen. Auch so manches Ungleichgewicht stößt den Händlern sauer auf: Weil Buch- und Blumenläden schon vorher geöffnet waren, sind sie beim Modellversuch außen vor. Ungerecht sei das, findet nicht nur Rongen, die abgesehen davon aber „sehr stolz“darauf ist, „dass Lisa Federle und der OB das durchgeboxt haben“.
Geradezu euphorisch über die Tübinger Offensive ist man im Zimmertheater. Als vor gut einer Woche die Stadtverwaltung bei ihnen anklopfte und mit der Bitte um Verschwiegenheit vorwarnte, dass möglicherweise bald wieder Theaterspielen möglich sei, war für Dieter und Peer Ripberger, die das Haus gemeinsam leiten, alles klar: „Wir wollen spielen.“
Weil innerhalb von ein paar Tagen kein Theaterstück bühnenreif war, engagierten sie kurzerhand ein fremdes Ensemble. Nach einjähriger Zwangspause, mit kurzer Unterbrechung im Herbst, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, finden die beiden. Im Theater selbst, mit seiner sechs Meter langen Bühne, wäre das aufgrund der CoronaAbstandsregeln praktisch unmöglich gewesen. Zum Glück hatte das Team den ersten Lockdown und die Fördergelder des Bundes dafür verwendet, den „Löwen“, ein ehemaliges
Der Oberbürgermeister setzt sich einem Risiko aus
Die Sehnsucht nach einem CaféBesuch
Kino, umzubauen. Hier ist eigentlich Platz für 120 Zuschauer – in Corona-Zeiten passen, je nach Zusammensetzung, zwischen 30 und 50 Menschen in die Ränge. Und die sind für die nächsten Tage so gut wie ausgebucht.
Theaterstühle und Kinosessel – lange Zeit blieben sie unbesetzt. Im Kino Atelier am Haagtor ist an diesem Nachmittag putzen angesagt. Die Öffnung steht unmittelbar bevor. Kinobetreiber Dieter Betz hat dafür vier aktuelle Arthouse-Filme aufgetrieben, teilweise werden sie noch im Preview gezeigt. Die Verleiher sind großzügig dieser Tage. Ob aus der Öffnung ein gutes Geschäft wird, bezweifelt Betz zwar. Nach gerade erst angekommenen November- und Dezemberhilfen könnte man das gut gebrauchen.
Aber ihn freut es, dass überhaupt mal wieder etwas anderes möglich ist als Streamen. „Da muss man den Palmer doch mal loben“, sagt er und schmunzelt. Die Corona-Auflagen sind natürlich auch hier einzuhalten: Abstand, Maske und Lüften im Kinosaal. Und wie es aussieht, müssen sie die Tests auch selbst organisieren, da sonntags nur ein paar Stunden lang am Marktplatz getestet wird. Aber Betz hat schon eine Idee. Nicht fragen, sondern machen, heißt es auch hier.
Vor dem Café Hirsch genießt Hilde Butscher den Geschmack der Freiheit in Form eines Bircher Müslis. Jenseits des aufgespannten Sonnenschirms herrscht Schneetreiben. Doch die Frau aus Gammertingen im Kreis Sigmaringen, die beruflich in der Stadt ist, lächelt entspannt. Sie wollte es sich gönnen, mal wieder im Café zu sitzen. „Das sind so Sehnsüchte“, sagt sie und lacht. „Egal, wie kalt es ist.“