Donau Zeitung

Bidens Impfwunder

In den USA wird auf Parkplätze­n und in Supermärkt­en geimpft. Sehr pragmatisc­h und vor allem sehr schnell. Noch im Januar sah die Lage in den Vereinigte­n Staaten völlig anders aus. Dann verordnete der Präsident seinem Land einen nationalen Kraftakt

- VON KARL DOEMENS

Washington Den Stich der Nadel spürt man kaum. Nach wenigen Sekunden ist der kostbare Impfstoff in den Oberarm injiziert. „Das war’s schon!“, sagt der Apotheker freundlich. Nur eine Frage hat er noch: „Kaufen Sie gelegentli­ch bei Safeway ein?“Noch ehe der perplexe Impfling antworten kann, hält ihm der Mann im weißen Kittel einen Coupon für die Supermarkt­kette entgegen: „Gibt zehn Prozent Rabatt“, sagt er.

Ein Einkaufsgu­tschein als Belohnung für eine Corona-Impfung? Oder eine Immunisier­ung als Köder zur Kundenwerb­ung? Man ist sich nicht ganz sicher, welches Interesse hier im Vordergrun­d steht. Aber eines lässt sich zweifelsfr­ei sagen: Die Impfaktion im Osten der USHauptsta­dt Washington ist perfekt organisier­t. „Folgen Sie immer den blauen Pfeilen!“, sagte der Mann eben noch an der Tür des RosedaleFr­eizeitzent­rums, nachdem er den QR-Code mit dem vereinbart­en Impftermin kontrollie­rt hatte. Der markierte Weg führt am Rand einer Turnhalle entlang bis zu einem Kreuz, wo ein weiterer Helfer vorübergeh­end den Führersche­in mit Namen und Adresse einkassier­t und einen einen Platz zuweist.

35 Stühle für die wartenden Ungeimpfte­n stehen auf der einen Seite. Auf ebenso vielen Plätzen gegenüber sollen die Geimpften sicherheit­shalber zehn Minuten verweilen. Dazwischen sitzen vier Apotheker von Safeway und spritzen im Akkord. 300 Dosen des Wirkstoffs von Pfizer/Biontech verabreich­en sie an diesem Morgen. Weitere 300 Dosen von Moderna liegen im Kühlschran­k für den Nachmittag bereit. „In exakt drei Wochen sehen wir uns wieder“, sagt der Apotheker: „Gleicher Ort, gleiche Zeit.“

Vergessen sind drei frustriere­nde Vormittage am Computer, in denen das völlig überlastet­e Anmeldepor­tal der Stadt Washington immer wieder abstürzte, den eingegeben­en Sicherheit­scode nicht akzeptiert­e oder am Ende plötzlich alle Termine schluckte. Auch in Amerika ist die Impfkampag­ne von organisato­rischen Pleiten und technische­n Pannen begleitet. Noch vor einem Monat bewertete die Washington Post die lokale Organisati­on mit der wenig schmeichel­haften Note „5 minus“. Doch unterm Strich relativier­t das rasante Tempo der Immunisier­ung viele Probleme: 125 Millionen Spritzen wurden inzwischen gesetzt. Jeder vierte Amerikaner hat mindestens eine Dosis erhalten, mehr als 13 Prozent sind vollständi­g geimpft. In Deutschlan­d sind es magere vier Prozent.

Pragmatisc­her, teils wildwüchsi­ger, aber vor allem viel schneller – so lässt sich die amerikanis­che Impfkampag­ne im Unterschie­d zur deutschen beschreibe­n. Als „Tagestheme­n“und „heute journal“am Ende des vergangene­n Jahres eindrucksv­olle Berichte über vorbildlic­he Impfzentre­n in Deutschlan­d brachten, hatte sich die Trump-Regierung über die Verteilung des massiv georderten Impfstoffs noch keinerlei Gedanken gemacht. Im Januar funkten Bürgermeis­ter reihenweis­e Alarm und monierten, dass sie mit der Organisati­on des Impfens völlig alleingela­ssen würden. Eilig wurden Katastroph­enschutz, Nationalga­rde und Apotheken, die in den USA oft mit Handelsket­ten verbunden sind, eingebunde­n und neue Vertriebsw­ege organisier­t.

Nun gibt es also einen bunten Flickentep­pich aus improvisie­rten Supermarkt-Impfstatio­nen, öffentlich­en Gesundheit­szentren und großen „Drive-Thru“-Stationen, bei denen man einfach mit dem Auto durchfährt. Auch die Zugangsbed­ingungen unterschei­den sich von Bundesstaa­t zu Bundesstaa­t. In

Alaska wird jetzt schon jeder Erwachsene geimpft. Anderswo muss man 50 oder 65 Jahre alt sein.

Dafür gibt es umfangreic­he Listen mit Vorerkrank­ungen, die zu einem Termin berechtige­n. Neben Krebs oder einer HIV-Erkrankung gehören dazu vielerorts Bluthochdr­uck und Übergewich­t – wobei der Grenzwert mal bei einem BodyMass-Index von 25, mal bei 30 und mal bei 40 liegt. Auf ein ärztliches Attest wird meist verzichtet. In Mississipp­i und New Jersey werden sogar Raucher vorgezogen.

Wie hemdsärmel­ig die Massenimmu­nisierung abläuft, kann man morgens beim Giant-Supermarkt auf der H Street im Washington­er Stadtteil Capitol Hill beobachten. Der große Lebensmitt­elladen öffnet um 6 Uhr, doch der hauseigene Apothekens­chalter am Rand der Einkaufsha­lle zieht erst um 9 Uhr das Gitter hoch. Direkt davor sitzt neben dem Weinregal und einem Ständer mit Chipstüten ein Kunde auf einem einzelnen Stuhl und wartet geduldig. Der 72-jährige Andrew ist auf der Jagd. Sein Ziel: eine überzählig­e Dosis Impfstoff.

Ähnlich wie Andrew liegen derzeit Hunderttau­sende Amerikaner auf der Lauer. Sie durchforst­en das Internet, tauschen Tipps über soziale Medien aus und stellen sich in langen Warteschla­ngen für Impfrestpo­sten an. Weil die in den USA verbreitet­en Vakzine von Pfizer/Biontech und Moderna ohne Kühlung nur wenige Stunden haltbar sind und gelegentli­ch Impfberech­tigte nicht zum Termin erscheinen, gibt es immer wieder Dosen, die am Ende einer Schicht schnell verabreich­t werden müssen. Der GiantApoth­eker handhabt das pragmatisc­h: Zunächst werden die Supermarkt-Beschäftig­ten gefragt. Wenn von denen keiner zugreift, werden die Kandidaten auf einer Warteliste benachrich­tigt.

Andrew strebt den aussichtsr­eichen ersten Platz auf dem Klemmbrett an, das bei Öffnung der Apotheke ausgelegt wird – allerdings nicht für sich selbst. Der Rentner bessert sich seine Bezüge beim Dienstleis­ter Skip The Line auf, den man auch engagieren kann, wenn einem die Wartezeit vor dem Restaurant oder dem Ticketscha­lter zu lange ist. Für 18 Dollar, etwa 15 Euro, in der Stunde hält er den Platz frei, bis ihn schließlic­h gegen 8.30 Uhr seine Auftraggeb­erin ablöst. Ein bisschen peinlich ist der beruflich stark engagierte­n Mittvierzi­gerin die Aktion schon. Aber: „Ich nehme niemandem etwas weg“, betont sie.

Das kann nicht jeder Impfdrängl­er von sich sagen. So wurde nach einem Bericht der Zeitung Miami Herald bereits im Januar, als die Vakzine noch richtig knapp waren, die Reichenenk­lave Ocean Reef auf den idyllische­n Florida Keys mit ihren 1200 Bewohnern – darunter auffallend viele Parteispen­der der Republikan­er – komplett durchgeimp­ft. Die laxen Vorgaben des Trumptreue­n Gouverneur­s Ron DeSantis lockten auch vermögende Kalifornie­r in den Sonnensche­in-Staat, die sich bei einem Kurztrip schnell vorab den Corona-Schutz besorgten.

Solche Fehlentwic­klungen sind die Kehrseite einer Impfkampag­ne, die Schnelligk­eit und Pragmatism­us über Regelgenau­igkeit und Einzelfall­gerechtigk­eit setzt. Auf der Habenseite jedoch steht das enorme Tempo, das die USA mit inzwischen rund 2,5 Millionen Impfungen pro Tag vorlegen. Möglich ist das, weil die Impfstoffe mittlerwei­le in großen Mengen zur Verfügung stehen. Daran hat auch Donald Trump einen Anteil: So sehr der Ex-Präsident durch das öffentlich­e Leugnen der Gefahr und die Ablehnung des Masken-Tragens bei der Eindämmung der Pandemie versagte, so massiv drängte er auf die Beschaffun­g eines Impfstoffs, der ihm das lästige politische Problem vom Hals schaffen sollte. Entspreche­nd wurden bei der Operation „Warp Speed“, zu Deutsch etwa: Windeseile, viel früher viel mehr Vakzine unterschie­dlicher Hersteller geordert als in Europa. Sein Nachfolger Joe Biden hat ebenfalls gehandelt – mit der EilBeschaf­fung von Maschinen für ein Pfizer-Werk in Michigan und durch Druck auf den Hersteller Johnson & Johnson zur Zusammenar­beit mit Wettbewerb­er Merck.

So dürften die USA bald mit Covid-19-Impfstoff überversor­gt sein. Bis zum Sommer werden jeweils 300 Millionen Dosen von Pfizer/Biontech und Moderna sowie 200 Millionen

Eilig wurden Apotheken und Nationalga­rde eingebunde­n

Biden erwartet schon bald einen Vakzin‰Überschuss

Dosen von Johnson & Johnson erwartet. Weil von den ersten beiden Impfstoffe­n zwei, von dem von Johnson & Johnson jedoch nur eine Gabe erforderli­ch sind, wäre das genug für 500 Millionen Menschen – fast doppelt so viel wie die 260 Millionen Erwachsene­n, die in den USA leben. Ende Mai werde es ausreichen­d Vakzine für alle Amerikaner geben, kündigte Biden an: „Das ist ein nationaler Kraftakt wie im Zweiten Weltkrieg.“Den Puffer bei der Beschaffun­g begründete der USPräsiden­t mit der Notwendigk­eit, für alle Eventualit­äten gewappnet sein zu müssen. Und er sagte: „Falls wir einen Überschuss haben, werden wir ihn mit der Welt teilen.“

Biden machte bereits große Versprechu­ngen: Am 4. Juli, dem Nationalfe­iertag, werde das Land weitgehend zur Normalität zurückkehr­en und beim Barbecue mit Familie und Freunden feiern können, sagte er kürzlich. Bis dahin sollen Zahnärzte, Sanitäter, Arzthelfer, Hebammen und selbst Tierärzte beim Impfen helfen. So könnte schon bald nicht mehr das Angebot, sondern die Nachfrage zum Problem werden. Bei Afroamerik­anern und Latinos gibt es aus kulturelle­n Gründen nämlich erhebliche Vorbehalte gegen eine Immunisier­ung. Zudem lehnen laut Umfragen bis zu 47 Prozent der Trump-Anhänger die Spritze aus ideologisc­hen Motiven ab. Entspreche­nd eindringli­ch appelliert­e Biden an die Bürger: „Ich werde nicht aufgeben, bevor wir das Virus besiegt haben. Aber dazu brauche ich Sie. Sie müssen sich impfen lassen!“

Bei der Mittvierzi­gerin in Washington, für die sich Rentner Andrew anstellte, muss der Präsident keine Überzeugun­gsarbeit mehr leisten. Sie bekommt an diesem Tag tatsächlic­h um kurz vor 15 Uhr einen Anruf von der Giant-Apotheke. Es sind zwei Impfdosen übrig. Kurz darauf sitzt sie hinter einer improvisie­rten Spanischen Wand in dem Supermarkt. Vorne schieben die Kunden ihre vollen Einkaufswa­gen vorbei. Hinter dem Sichtschut­z wird ihr die Spritze gesetzt.

Auch eine andere Frau, die Nummer zwei auf der Warteliste vom Vormittag, hat es geschafft. Verstohlen glücklich nicken sich die beiden Fremden zu: Schon in wenigen Wochen werden sie ihr altes Leben zumindest ein Stück weit zurückhabe­n, wissen sie.

 ?? Fotos: Mark Mulligan, Houston Chr/Andrew Harnik, dpa/Karl Doemens ?? Im eigenen Auto geimpft zu werden, ist – wie hier im texanische­n Houston – auch kein Problem in den USA.
Fotos: Mark Mulligan, Houston Chr/Andrew Harnik, dpa/Karl Doemens Im eigenen Auto geimpft zu werden, ist – wie hier im texanische­n Houston – auch kein Problem in den USA.
 ??  ?? Hat Grund zur Freude: Präsident Biden. Seine Impfkampag­ne ist erfolgreic­h.
Hat Grund zur Freude: Präsident Biden. Seine Impfkampag­ne ist erfolgreic­h.
 ??  ?? Einkaufsgu­tschein als Dank für die Imp‰ fung bei der Supermarkt­kette Safeway.
Einkaufsgu­tschein als Dank für die Imp‰ fung bei der Supermarkt­kette Safeway.

Newspapers in German

Newspapers from Germany