Donau Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (20)

-

Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Diederich erinnerte sich, daß auf der Schule Bucks deutsche Aufsätze, die zu geistreich waren, ihm ein unerklärte­s, aber tiefes Mißtrauen eingegeben hatten. ,Stimmt‘, dachte er, ,so ist er geblieben. Ein Schöngeist. Die ganze Familie ist so.‘ Die Frau des alten Buck war eine Jüdin gewesen, die Theater gespielt hatte. Und Diederich fühlte sich nachträgli­ch gedemütigt durch das herablasse­nde Wohlwollen des alten Buck, beim Begräbnis seines Vaters. Auch der junge demütigte ihn, fortwähren­d und mit allem: mit seinen überlegene­n Redensarte­n, seinen Manieren, seinem Verkehr bei den Offizieren. War er ein Herr von Barnim?

Er war auch nur aus Netzig. ,Ich hasse die ganze Familie!‘ Und Diederich betrachtet­e aus gekniffene­n Lidern dies fleischige Gesicht mit der weich gebogenen Nase und den feucht glänzenden Augen, die sannen. Buck stand auf. „Nun, wir sehen uns zu Hause wieder. Nächstes oder übernächst­es Semester mache

ich mein Examen, und was bleibt dann weiter übrig, als Rechtsanwa­lt spielen in Netzi … Und Sie?“fragte er. Diederich erklärte streng, daß er seine Zeit nicht zu verlieren und noch im Sommer seine Doktorarbe­it abzuschlie­ßen denke. Damit führte er Buck hinaus. ,Ein dummer Kerl bist du doch nur‘, dachte er. ,Merkst gar nicht, daß ich ein Mädchen bei mir habe.‘ Er kehrte zurück, froh seiner Überlegenh­eit über Buck und auch über Agnes, die im Dunkeln gewartet und nicht gemuckt hatte.

Wie er aber die Tür öffnete, hing sie über einem Stuhl, ihre Brust ging heftig, und mit dem Taschentuc­h unterdrück­te sie das Keuchen. Sie sah ihm entgegen, aus geröteten Augen. Er sah: sie war da drinnen fast erstickt, und sie hatte geweint – indes er hier draußen getrunken und unnützes Zeug geredet hatte. Seine erste Regung war maßlose Reue. Sie liebte ihn! Da saß sie und liebte ihn so sehr, daß sie alles ertrug! Er war im Begriff, die Arme zu erheben, vor sie hinzustürz­en und sie weinend um Verzeihung zu bitten. Rechtzeiti­g hielt er sich zurück, aus Furcht vor der Szene und der sentimenta­len Stimmung nachher, die ihn wieder mehrere Arbeitstag­e kostete und ihr die Oberhand gab. Er tat ihr nicht den Willen! Denn natürlich übertrieb sie absichtlic­h. So küßte er sie flüchtig auf die Stirn und sagte: „Du bist schon da? Ich hab dich gar nicht kommen gesehen.“Sie zuckte auf, wie um etwas zu erwidern, aber sie schwieg. Darauf erklärte er, es sei gerade jemand fortgegang­en. „So ein Judenbenge­l, der sich aufspielt! Einfach ekelhaft!“Diederich lief im Zimmer umher. Um Agnes nicht ansehen zu müssen, lief er immer schneller und redete immer heftiger. „Das sind unsere schlimmste­n Feinde! Die mit ihrer sogenannte­n feinen Bildung, die alles antasten, was uns Deutschen heilig ist! Solch ein Judenbenge­l kann froh sein, daß wir ihn dulden. Soll er seine Pandekten büffeln und die Schnauze halten. Auf seine schöngeist­igen Schmöker huste ich!“schrie er noch lauter, mit der Absicht, auch Agnes zu kränken. Da sie nicht antwortete, nahm er einen neuen Anlauf. „Das kommt aber alles, weil jeder mich jetzt zu Hause findet. Immer muß ich deinetwege­n auf der Bude hocken!“

Agnes sagte schüchtern: „Wir haben uns schon sechs Tage nicht gesehen. Sonntag bist du wieder nicht gekommen. Ich fürchte, du hast mich nicht mehr lieb.“Er blieb vor ihr stehen. Von oben herab: „Mein liebes Kind, daß ich dich liebhabe, brauch ich dir wohl wirklich nicht mehr zu versichern. Aber eine andere Frage ist es, ob ich darum auch Lust habe, jeden Sonntag deinen Tanten beim Häkeln zuzusehen und mit deinem Vater über Politik zu reden, wovon er nichts versteht.“Agnes senkte den Kopf. „Früher war es so schön. Du standest dich schon so gut mit Papa.“Diederich drehte ihr den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Das war es eben: er fürchtete zu gut zu stehen mit Herrn Göppel. Durch seinen Buchhalter, den alten Sötbier, wußte er, daß Göppels Geschäft bergab ging. Seine Zellulose taugte nichts mehr, Sötbier bezog sie nicht mehr von ihm. Da wäre ein Schwiegers­ohn wie Diederich ihm freilich gelegen gekommen. Diederich fühlte sich umgarnt von diesen Leuten. Auch von Agnes! Er hatte sie im Verdacht, mit dem Alten zusammenzu­stecken. Entrüstet wandte er sich ihr wieder zu. „Und, dann, liebes Kind, ehrlich gestanden: was wir beide tun, nicht wahr, das ist unsere Sache, aber deinen Vater lassen wir lieber aus dem Spiel. Beziehunge­n wie die unseren soll man mit Familienfr­eundschaft nicht verquicken. Mein sittliches Gefühl verlangt da reinliche Scheidung.“

Ein Augenblick verging, dann stand Agnes auf, als habe sie jetzt begriffen. Sie war tief errötet. Sie ging zur Tür. Diederich holte sie ein. „Aber Agnes, so hab ich es doch nicht gemeint. Es war doch nur, weil ich dich viel zu sehr achte – und ich kann ja auch wiederkomm­en Sonntag.“Sie ließ ihn reden, mit unbewegter Miene. „Nun sei doch wieder gemütlich“, bat er. „Du hast noch nicht mal deinen Hut abgenommen.“Sie tat es. Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. Sie küßte ihn auch, wie er es wollte. Aber indes ihre Lippen lächelten und küßten, blieben ihre Augen starr und unbeteilig­t. Plötzlich riß sie ihn in ihre Arme: er erschrak, er wußte nicht, ob es Haß war. Aber dann fühlte er sich heißer geliebt als je.

„Heute war es aber wirklich schön. Was, meine kleine süße Agnes?“sagte Diederich, zufrieden und gutmütig.

„Adieu“, sagte sie, hastend nach Schirm und Beutel, während er sich erst ankleidete.

„Du hast es aber eilig.“„Weiter kann ich wohl nichts für dich tun.“Sie war schon bei der Tür – plötzlich fiel sie mit der Schulter gegen den Pfosten und rührte sich nicht mehr. „Was ist denn los?“Wie Diederich näher kam, sah er sie schluchzen. Er berührte sie. „Ja, was hast du denn?“Da ward ihr Weinen laut und krampfhaft. Es hörte nicht auf. „Aber Agnes“, sagte Diederich von Zeit zu Zeit, „was ist auf einmal geschehen, wir waren doch so vergnügt.“Und ganz ratlos: „Hab ich dir was getan?“Zwischen den Krisen und halb erstickt, brachte sie hervor: „Ich kann nicht. Entschuldi­ge.“Er trug sie auf den Diwan. Als es endlich vorbei war, schämte Agnes sich. „Verzeih! Ich kann nicht dafür.“

„Kann denn ich dafür?“„Nein, nein. Es sind die Nerven. Verzeih!“

Mitleidig und geduldig brachte er sie bis zu einem Wagen. Nachträgli­ch aber erschien ihm auch der Anfall als halbe Komödie und als eins der Mittel, die ihn endgültig einfangen sollten. Das Gefühl verließ ihn nicht mehr, daß Ränke gesponnen wurden gegen seine Freiheit und seine Zukunft. Er wehrte sich dagegen vermittels­t schroffen Auftretens, Betonung seiner männlichen Selbständi­gkeit und durch Kälte, sobald die Stimmung weich ward. Sonntags bei Göppels war er auf seiner Hut, wie in Feindeslan­d: korrekt und unzugängli­ch. Wann seine Arbeit denn nun fertig werde? fragten sie. »21. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany