Eine Umdrehung zu viel
Auch Angela Merkel ist in der Corona-Krise an Grenzen gestoßen. Im Streit um die Osterruhe versucht sie nun mit einer spektakulären Kehrtwende zu retten, was noch zu retten ist. Viel Zeit bleibt ihr dabei nicht mehr
Augsburg/Berlin Sie kann auch anders. In den mehr als 15 Jahren, die sie Deutschland jetzt regiert, hat Angela Merkel selten etwas übers Knie gebrochen. Abwarten, bis sich die erste Aufregung gelegt hat, genau beobachten, welche Meinungen sich in einer Debatte langsam herausmendeln, im Zweifel lieber noch eine Nacht länger über eine Entscheidung schlafen: Anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder oder ihr langjähriger Rivale Horst Seehofer ist die Kanzlerin keine Instinktpolitikerin, sondern eine kühl abwägende Frau. Eine, die die Dinge gerne unter Kontrolle hat.
Umso erstaunlicher ist ihr Auftritt am Tag nach dem bislang größten kommunikativen Debakel in der Corona-Krise. Das politische Berlin ist am Mittwoch noch gar nicht richtig in Schwung gekommen, da schaltet Angela Merkel sich noch einmal mit den Ministerpräsidenten zusammen und nimmt die umstrittene Osterruhe wieder zurück. Sie bitte alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung, sagt sie später. Und weiter, als habe sie sich schon häufiger derart spektakulär korrigieren müssen: „Mit dem Kopf durch die Wand gewinnt immer die Wand, das ist meine lange Erfahrung.“
Es sind Sätze, wie man sie von ihr noch nie gehört hat. Offenbar spürt auch die Kanzlerin, dass die letzte Umdrehung im Kampf gegen Corona möglicherweise eine zu viel war, und zieht gerade noch rechtzeitig die berühmte Reißleine.
Die Wirtschaft auf den Barrikaden, das mediale Echo verheerend, die Umfragewerte der Union im freien Fall und der Frust auch in den eigenen Reihen allmählich in Zorn umschlagend: Ein halbes Jahr vor dem Ende ihrer Amtszeit geht es Angela Merkel nicht anders als vor ihr Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder. Ihre Macht erodiert – und ihr Nimbus als ebenso patente wie verlässliche Krisenmanagerin gleich mit. Die nächste Kanzlerdämmerung, so scheint es, hat begonnen.
In der letzten großen Krise ihrer Amtszeit nach der Finanz- und der Flüchtlingskrise stößt auch die lange Zeit so unangefochten Regierende an Grenzen. Hat sie überschätzt, was sie den Menschen zumuten
kann? Ist das fortgesetzte Einschränken von Grundrechten für sie nur Mittel zum Zweck? Der nüchternen Logik der Wissenschaft intellektuell zu folgen ist ja das eine, die Bürger davon auch zu überzeugen, sie mitzunehmen auf diesem Weg das andere. So witzig und gewinnend die 66-Jährige in kleiner Runde sein kann: Die Kommunika
tion nach draußen, ins Land, war noch nie ihre Stärke – und die hemdsärmelige Art, mit der Amerikaner, Briten oder Israelis sich in den Kampf gegen das Virus gestürzt haben, ist ihr eher suspekt, als dass sie sich davon inspirieren ließe. Genau deshalb aber wirkt ihre CoronaPolitik so seltsam starr – und mit ihr auch die Regierungschefin.
● Modellprojekte: In „zeitlich befris teten Modellprojekten“dürfen die Länder in ausgewählten Regionen ausprobieren, wie sich Bereiche des öffentlichen Lebens „mit strengen Schutzmaßnahmen und einem Test konzept“öffnen lassen.
● Arbeitsplatz: Arbeitgeber sollen ihren Mitarbeitern Homeoffice er möglichen. Wo das nicht geht, sollen sie regelmäßige Tests anbieten, „min destens einmal und bei entsprechender Verfügbarkeit zweimal pro Woche“. Anfang April sollen die Wirtschaftsver bände Bericht erstatten. (dpa)
Ob sie es schon bereut hat, auch noch für eine vierte Amtszeit anzutreten? Angela Merkel ist nicht für jede fehlende Impfdosis persönlich verantwortlich, aber sie weiß, dass sie als Kanzlerin in eine Art Generalhaftung genommen wird. Bisher hat sie diesen Druck mit der ihr eigenen stoischen Ruhe ertragen, hat den Gesundheitsminister nach jeder
Panne aufs Neue verteidigt und sich stereotyp von Lockdown zu Lockdown gehangelt. Schon deshalb wird ihr Auftritt an diesem Mittwoch im kollektiven Gedächtnis der Republik bleiben, weil er so unerwartet kam und sein Ergebnis so ungewöhnlich war. Ist es der verzweifelte Versuch zu retten, was noch zu retten ist, persönlich wie politisch? Oder agiert da noch immer die kühl abwägende Frau, die plötzlich feststellen muss, dass Aufwand und Ertrag bei der Osterruhe in keinem Verhältnis zueinander stünden, und das Experiment deshalb beendet, noch ehe es begonnen hat?
Natürlich wird sie jetzt nicht die Vertrauensfrage stellen, wie es die Opposition bereits fordert. Sie hat ihren Fehler eingeräumt, sich wortreich entschuldigt – und damit zurück zur Tagesordnung. In solchen Dingen ist Angela Merkel ihrem früheren Mentor Kohl ähnlicher, als es ihr womöglich lieb ist. Und auch sie ist schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, wann sie Druck aus dem Kessel nehmen muss, selbst wenn es dazu einer rasanten Kehrtwende bedarf, eines Canossagangs durch Videokonferenz
Die Wirtschaft steht auf den Barrikaden
Die Vertrauensfrage wird sie nicht stellen
und Livestream. Wie einst Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, die 1999 nach dem vermurksten Start ihrer rot-grünen Koalition öffentlich ihre Fehler einräumten und Besserung gelobten, zeigt auch Angela Merkel: Ich habe verstanden.
Lieber ein Gründonnerstag, an dem gearbeitet wird und eingekauft werden kann, als eine wochenlange Debatte über die zunehmende Unfähigkeit der Regierung und der sie anführenden Kanzlerin: Da ist die neue, reuige Merkel, so widersprüchlich das auch klingen mag, dann doch wieder die alte: pragmatisch, unsentimental, alleine am Ergebnis orientiert.
Wie ein Schatten liegt die Pandemie mit all ihren Kollateralschäden, ihren Impf- und Testdebakeln über der letzten Amtszeit von Angela Merkel. Und je länger diese Krise noch dauert, desto mehr wird sie zu ihrer Krise, obwohl sie sich mit den Jahren eine gewisse Immunität gegen Kritik antrainiert hat. „Wenn ich immer gleich eingeschnappt wäre“, hat sie nach einem Streit mit Wladimir Putin einmal gesagt, „könnte ich keine drei Tage Bundeskanzlerin sein.“