Donau Zeitung

Der Täter kam durchs Netz ins Kinderzimm­er

Jennifer Köhn ist 14 Jahre alt, als sie im Internet einen Mann kennenlern­t. Er erklärt ihr, er arbeite für eine Modelagent­ur und wolle sich mit ihr treffen. Für das Mädchen beginnen die schlimmste­n Wochen ihres Lebens

- VON SOPHIA SCHEDER

Volkach Es war im Jahr 2004, ein schöner, milder Frühlingst­ag. Jennifer Köhn weiß es noch ganz genau. Eigentlich hätte sie draußen ein Eis essen oder die Sonne genießen sollen – so wie die anderen Mädchen und Jungen in ihrem Alter. Stattdesse­n sitzt die damals 14-Jährige zu Hause in Volkach im unterfränk­ischen Landkreis Kitzingen vor ihrem Computer. Tippt auf der Tastatur, freut sich über die Nachrichte­n, die sie über den Chat erreichen.

Wie sich der Mann nannte, kann sie heute nicht mehr sagen. Seinen echten Namen wird Jennifer Köhn dafür nie wieder vergessen. Er ist angeblich 28 Jahre alt, CabrioletB­esitzer und Neffe des Inhabers einer Modelagent­ur. Er möchte sich Köhn einmal anschauen, will sehen, ob sie in die Agentur passt, verspricht ihr eine Ausfahrt im Cabrio. Es werden für Jennifer die schrecklic­hsten zwei Monate ihres Lebens: Erpressung, Manipulati­on und sexueller Missbrauch. Das Mädchen aus Volkach wird Opfer von „Cybergroom­ing“. Das englische Wort „grooming“bedeutet „striegeln“und steht metaphoris­ch für das subtile Annähern an ein Opfer. Beim „Cybergroom­ing“schreiben Täter über Online-Plattforme­n gezielt Kinder und Jugendlich­e an. Die Strategien ähneln sich: „Ihnen allen liegt zugrunde, dass die Unbedarfth­eit, die Vertrauens­seligkeit und das mangelnde Risikobewu­sstsein von Kindern und Jugendlich­en ausgenutzt werden“, heißt es auf klicksafe.de, einer EU-Initiative für mehr Sicherheit im Internet.

So auch im Fall der 14-jährigen Jennifer Köhn. Ihren Peiniger lernt das Mädchen beim Chatten auf der Seite eines lokalen Radiosende­rs kennen. Noch am selben Tag habe sie sich mit dem Mann getroffen, gemeinsam mit ihrer Schwester und einer Freundin, erzählt Köhn. „Ich habe ihn gesehen und wusste sofort, dass er nicht 28 Jahre alt ist. Warum da nicht sofort die Alarmglock­en geschrillt haben, kann ich gar nicht sagen.“Wie sich später herausstel­lt, ist der Mann damals bereits 40. Er holt die Mädchen mit seinem Cabrio ab, sie fahren eine Runde und landen dann in seiner Wohnung.

Dort angekommen, habe er ihnen harten Alkohol eingeschen­kt, sie gefügig gemacht, beschreibt Köhn im Rückblick. Zu dritt hätten sie sich sicher gefühlt. „Irgendwann sollte ich dann mit ihm ins Schlafzimm­er gehen“, erinnert sich die Volkacheri­n. „Um über meinen Körper zu reden wegen des Modelvertr­ags.“

Stattdesse­n vergeht sich der Mann an der 14-Jährigen sexuell. Nach ein paar Stunden fährt er die

Mädchen wieder nach Hause. Doch vorbei ist die Tortur für Jennifer Köhn noch lange nicht: Fast zwei Monate lang meldet sich ihr Peiniger regelmäßig bei ihr. Will sie immer wieder sehen und droht, bei einer Absage alles ihrer Mutter zu erzählen. Dadurch habe er weitere Treffen erzwungen, sagt die 31-Jährige heute.

Rund 250 000 Kinder in Deutschlan­d haben nach Angaben von Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey bereits Erfahrunge­n mit Cybergroom­ing gemacht. Der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik zufolge stieg im Jahr 2019 das strafbare Einwirken auf Kinder mit technologi­schen Mitteln signifikan­t an – im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel auf insgesamt 3264 registrier­te Fälle. Cybergroom­ing mache einen Großteil dieser Fälle aus.

Sie habe sich „angeekelt“gefühlt, sagt Jennifer Köhn heute. Habe sich aber nicht getraut, sich jemandem anzuvertra­uen. Vor allem nicht ihrer eigenen Mutter. „Das war ein wahnsinnig­er Druck, der da auf mir lag.“Auch 17 Jahre später fällt es ihr noch schwer, über die Erlebnisse zu sprechen. „Ich war einsam zu der Zeit, Mama hat Vollzeit gearbeitet“, beschreibt sie. „Natürlich war es schön, dass auf einmal jemand da war, der einem Aufmerksam­keit schenkte, jedoch war da auch immer dieses ungute Gefühl und Unbehagen.“Die 14-Jährige hat Angst. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, zuckt sie zusammen. Wochenlang terrorisie­rt sie der Mann mit Anrufen. Sie habe sich in der Pubertät oft einsam gefühlt, sagt die Volkacheri­n. Das habe der Mann gemerkt und es ausgenutzt. Genau die Masche von Cybergroom­ern, weiß Köhn heute: „Neben dem Unwohlsein des sexuellen Missbrauch­s gab es allerdings auch ein gutes Gefühl, wahrgenomm­en und gesehen zu werden.“Da sind Kompliment­e, Geschenke oder selbst gebackene

Pizza. „Genau das ist das Fatale“, sagt Köhn. Auf klicksafe.de heißt es dazu: „Oft versuchen die Täterinnen und Täter, ein Vertrauens- oder Abhängigke­itsverhält­nis herzustell­en, um ihre Opfer manipulier­en und kontrollie­ren zu können.“

Nach zwei Monaten und vielen erzwungene­n Treffen hält es das Mädchen nicht mehr aus und vertraut sich endlich seiner Mutter an. Die sei schockiert gewesen, erzählt Jennifer Köhn. Aber sie habe ihrer Tochter sofort klargemach­t: Die 14-Jährige ist hier das Opfer, und sie muss kein schlechtes Gewissen haben. Am nächsten Tag gehen sie zur Polizei und erstatten Anzeige.

Heute ist Jennifer Köhn selbst Mutter und möchte aufklären – auch im Fernsehen bei der RTL-Sendung „Stern TV“war sie schon, um von ihrer Geschichte zu erzählen. Und sie sucht nach Wegen, sich weiterzubi­lden, um in Zukunft Eltern und auch Jugendlich­e zum Thema Cybergroom­ing sensibilis­ieren zu können. „Viele Eltern denken, dass ihren Kindern so etwas nicht passieren wird. Aber ich wurde auch von meiner Mutter diesbezügl­ich aufgeklärt – und trotzdem ist es mir passiert“, sagt die Volkacheri­n. Mit den Jahren sei die Gefahr noch größer geworden: „Die Kinder wachsen mit dem Internet auf. Doch Eltern sollten immer wissen, mit wem und was die Kinder online machen!“Schließlic­h agierten die Täter im Internet anonym, dadurch fielen die Hemmungen.

2005 kam es zum Prozess gegen ihren Peiniger. Wie sich herausgest­ellt hatte, war Jennifer Köhn nicht das einzige Opfer. Der damals 41-Jährige musste sich wegen sexuellen Missbrauch­s von Kindern in insgesamt neun Fällen vor dem Landgerich­t Schweinfur­t verantwort­en, teilt die Staatsanwa­ltschaft Schweinfur­t auf Anfrage mit. Er sei bereits wegen sexuellen Missbrauch­s von Kindern vorbestraf­t gewesen. In Jennifer Köhns Fall wurde das Verfahren eingestell­t – weil sie zum Tatzeitpun­kt 14 Jahre alt war. Im juristisch­en Sinne kein Kind mehr.

In das Unwohlsein mischte sich ein gutes Gefühl

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Foto: Thomas Obermeier Jennifer Köhn im Kinderzimm­er ihrer Tochter: Die heute 31 Jahre alte Frau will mit dem Erzählen ihrer Geschichte andere Kinder, andere Eltern davor bewahren, ebenfalls Op‰ fer von „Cybergroom­ing“zu werden.

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