Hier hat Corona Lebensträume zerstört
48 Jahre lang war Johanna Zucker mit ihrem Mann Werner verheiratet. Covid-19 hat den Lehrer ebenso wie den Zoltinger Peter Schmidt mitten aus dem Leben gerissen. Was die Höchstädterin empfindet, wenn sie Corona-Leugner sieht
Der Höchstädter Werner Zucker und der Zoltinger Peter Schmidt sind an Covid-19 gestorben. Beide waren erst 70.
Höchstädt/Zoltingen In diesem Gespräch gibt es immer wieder Momente, die Johanna Zucker völlig aus der Fassung bringen. Die Fotokiste mit Bildern aus vergangenen Urlaubstagen. Der Blick vom Esszimmer in den großen Garten, den sie bis vor wenigen Wochen immer zusammen mit ihrem Mann gepflegt hat. Die Karte auf dem Tisch – mit dem „Danke für die große Anteilnahme und die vielen tröstenden Worte und Gesten“. Da wird der Höchstädterin klar, wie viele wunderbare Momente sie zusammen in den vergangenen 53 Jahren mit Werner Zucker verbracht hat. Und in diesen Situationen befällt Johanna Zucker ein unsagbarer Schmerz, denn ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Vor vier Monaten ist Werner Zucker an Corona gestorben.
Die Nachricht hatte sich damals nicht nur in Höchstädt in Windeseile verbreitet. Der gebürtige Lauinger war Lehrer mit Leib und Seele. Er hatte an der Hauptschule in Lauingen und der Mittelschule in Höchstädt unterrichtet, und in den letzten Jahren vor seiner Pensionierung war Werner Zucker als „Springer“an weiteren Schulen im Landkreis im Einsatz. Und auch nach seiner Pensionierung vor fünf Jahren ließ er das Lehrerdasein nicht ganz ruhen. Der Höchstädter gab Deutschunterricht für Flüchtlinge.
Johanna und Werner Zucker hatten gemeinsam viel Freude, an ihren beiden Kindern, den vier Enkeln, der Gartenarbeit und dem Campen mit dem geliebten blauen VW-Bus, in dem der Werklehrer Schränke und eine Küche einbaute. Zu Beginn der Pandemie seien sie sehr vorsichtig gewesen – aus Angst, sich infizieren zu können, berichtet Johanna Zucker. Ihre Kinder hätten auch die Enkel von ihnen ferngehalten. Für die Zeit nach dem ersten CoronaLockdown hatte Werner Zucker Pläne geschmiedet. „Er wollte in den Harz“, erinnert sich Johanna Zucker. Doch dann schlug die Pandemie zu. Mehrere Mitglieder der Familie Zucker erkrankten an Covid-19.
„Wir fühlten uns extrem schlapp“, berichtet die Höchstädterin, die anderthalb Jahrzehnte am Marktplatz einen Kindermode-Laden betrieben hat. Aber nichts deutete zunächst auf eine Katastrophe hin. Als sich aber am siebten Tag bei Werner Zucker hohes Fieber und Schüttelfrost bemerkbar machten, wählte Johanna Zucker den Notruf. Der 70-Jährige wurde in die Wertinger Kreisklinik gebracht. An einem Dienstag, 8. Dezember, nahm das Unheil seinen Lauf. Bei einer Arztvisite am Abend habe ihr Mann noch ganz normal gesprochen. Seinen Zimmernachbarn bat Werner Zucker nach einer Unterhaltung, ob er das Licht ausmachen könne. Und als der Bettnachbar sich wenig später zur Toilette bewegte, bemerkte er, dass Werner Zucker leblos quer im Bett lag. Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg. Der Höchstädter starb vermutlich an einer Lungenembolie, ausgelöst von Corona.
Es ist in diesem Gespräch wieder solch ein Moment, in dem der Schmerz Johanna Zucker Tränen in die Augen treibt. Mit 15 hat sie ihren Mann kennengelernt, 48 Jahre lang war sie mit ihm verheiratet. „Man weiß, wie der andere tickt. Ich wäre schon gerne mit meinem Werner alt geworden“, sagt die 68-Jährige und schluchzt kurz auf. Sie habe noch viel mit ihrem Mann vorgehabt, etwa Urlaub in Kroatien, wo sich die Zuckers wie zuhause fühlten. Oder das gemeinsame Zusammensein mit den Enkeln, die ihren Opa heiß und innig geliebt haben. Nun fühle sie eine große Leere. „Ein Teil meines Lebens ist wie aus heiterem Himmel weggebrochen.“Eine schwere Vorerkrankung habe ihr Mann, abgesehen von einem schlechteren Blutwert und etwas Bluthochdruck, nicht gehabt. Er sei zwar kein Sportler gewesen, aber gerne stramm spazieren gegangen.
Auch die Zoltingerin Margit Schmidt hatte sich auf den inzwischen begonnenen Ruhestand mit ihrem Mann Peter gefreut. Aber die der 63-jährigen Kesseltalerin ist ebenfalls an der Pandemie zerschellt. Peter Schmidt war der Zimmernachbar Zuckers in der Wertinger Kreisklinik. Der 70-Jährige litt unter einer Nierenerkrankung und musste deshalb in einem Rhythmus von drei Monaten zur Behandlung ins Dillinger Kreiskrankenhaus. „Dort hat sich mein Mann Ende November mit dem Coronavirus infiziert“, teilt Margit Schmidt mit. Ihr Mann wurde auf die CovidStation
Mit dem Rettungsdienst zurück in die Wertinger Kreisklinik
in Wertingen verlegt. „Eines nachts rief er mich an, dass Werner Zucker gestorben ist“, berichtet Margit Schmidt. Ihr Mann sei schockiert gewesen. Der frühere BauAkustiker, der sich um Schallschutz kümmerte, wurde drei Tage später aus dem Krankenhaus ohne Symptome entlassen. Zu Hause versorgte die Kesseltalerin den 70-Jährigen, mit dem sie 47 Jahre lang verheiratet war. Am Zweiten Weihnachtsfeiertag verschlechterte sich sein Zustand dramatisch, Peter Schmidt musste mit dem Rettungsdienst zurück in die Wertinger Kreisklinik gebracht werden. Nach einer kurzen Stabilisierung ging es nur noch bergab. Am
30. Dezember hat Margit Schmidt zum letzten Mal persönlich mit ihrem Mann telefoniert, danach war dies nur noch über das Pflegepersonal möglich. „Das Schlimmste für mich und meine drei Söhne war es, dass wir ihn im Krankenhaus nicht besuchen durften und beim Sterben nicht bei ihm sein konnten.“Auch seinen Wunsch, dass er zu Hause sterben wollte, habe sie ihm nicht erfüllen können, sagt Margit Schmidt verzweifelt. „Das lässt uns einfach nicht los.“
Peter Schmidt starb am Sonntag,
3. Januar. Danach durften sich die Angehörigen von ihm kurz verabschieden – in voller Schutzausrüstung. Durch den Schicksalsschlag ist auch Margit Schmidts Leben aus den Fugen geraten. Sie hadert mit einem Umstand. „Peter würde noch leben, wenn er sich nicht im Krankenhaus mit Corona infiziert hätte“, sagt die Zoltingerin.
Eine bundesweite Gedenkveranstaltung für die Opfer der Pandemie findet an diesem Sonntag, 18. April, statt. Im Landkreis Dillingen allein sind bisher 102 Menschen an oder mit Corona gestorben. Wenn die GeLebensperspektive fahr der Pandemie verharmlost werde, gerät Johanna Zucker inzwischen in Rage. Die Höchstädterin gesteht: „Wenn ich Corona-Leugner auf Demos sehe, muss ich mich zusammenreißen, dass keine Hass-Gefühle in mir hochkommen.“Ein Bekannter von ihr habe inzwischen seine Meinung zur Harmlosigkeit von Covid-19 revidiert. Über Corona-Späße kann Johanna Zucker nicht lachen. „Wenn solche Nachrichten über WhatsApp kommen, finde ich das einfach nicht lustig“, sagt sie. Denn die Pandemie habe ihren Lebenstraum, mit Werner Zucker noch viel zu erleben, mit einem Schlag zerstört.
Am Ende waren viele von ihnen allein. Die Ehefrau ohne ihren Mann, der Großvater ohne seine Enkel. Sie sind isoliert gestorben, auf einer Intensivstation oder in einem Altenheim irgendwo in Deutschland. Dieses Schicksal teilen mittlerweile fast 80 000 Menschen. So viele Männer und Frauen haben in der Bundesrepublik ihr Leben durch eine Covid19-Erkrankung verloren, sind an oder mit Corona gestorben, wie es so oft heißt. Jeden Tag veröffentlicht das RobertKoch-Institut die Zahl der Corona-Toten, die Statistik gehört längst zum täglichen Grundrauschen der Pandemie. Doch für Angehörige, Freunde, Bekannte sind die Menschen, die in dieser Zeit gestorben sind, nicht nur Zahlen in einer Statistik. Sie haben ein Gesicht, eine Lebensgeschichte. Daran wird an diesem Wochenende an vielen Orten im Land erinnert. In Berlin gedenken Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel und weitere Politiker in einer offiziellen Veranstaltung der Verstorbenen. Steinmeier hat daneben die Aktion „Lichtfenster“ausgerufen: Eine Kerze auf dem Fensterbrett soll Symbol für die geteilte Trauer sein. Viele Kirchen planen außerdem Gedenkgottesdienste, auch in der Region. Wir wollen auf dieser Seite ebenfalls an elf Frauen und Männer erinnern, die an oder mit dem Virus gestorben sind – stellvertretend für die zehntausenden Menschen, die als Partner, Eltern, Großeltern, Kinder, Geschwister, Freunde und Kollegen fehlen.
Für Norbert Fischer sind diese kleinen und großen Gedenkmomente wichtig. Gerade weil das Aufzählen der Corona-Toten alltäglich geworden sei, brauche es ein gemeinsames Erinnern, ein gemeinsames Trauern, sagt der Sozialund Kulturhistoriker, der an der Universität Hamburg lehrt und Trauerkultur erforscht. „Es gibt eine große Distanz zu den Corona-Toten“, betont Fischer. Weil sie isoliert im Krankenhaus oder Altenheim sterben, ist ein normaler Abschied nicht möglich. Dazu kommt, dass die Kontaktbeschränkungen ein Trauern in großer Gesellschaft nicht erlauben – ein Umstand, der das Abschiednehmen in Zeiten der Pandemie für alle Angehörigen schwer macht, unabhängig davon, ob jemand an einer Covid-19-Erkrankung gestorben ist oder an etwas anderem.
Trauerforscher Fischer beobachtet das mit Sorge. Er befürchtet einen Rückfall in eine Zeit, in der Tote und der Tod an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Bis in die 80er Jahre hinein, erläutert der Wissenschaftler, sei das Sterben ein Tabuthema gewesen. Erst durch die Hospizbewegung und auch die große öffentliche Anteilnahme für Menschen, die an einer HIV-Erkrankung gestorben sind, sei der Tod enttabuisiert worden. Nun, da viele Menschen allein sterben und in kleinstem Kreis zu Grabe getragen werden, stellt Fischer eine Gegenbewegung fest – mit schweren Folgen für die Psyche der Hinterbliebenen. „Menschen trauern, weil sie gesellige Wesen sind“, sagt der Experte. „Sie sind mit anderen Menschen verbunden. Wenn jemand stirbt, dann entfällt auch ein Teil von uns.“Zur Trauer gehöre aber eben auch immer, sich auszutauschen: das Treffen mit Angehörigen oder mit einer Trauergruppe, der gemeinsame Leichenschmaus. All das fehlt aktuell. Ein gemeinsames Gedenken in vielen Städten und Orten im ganzen Land könne all das nicht vollständig ersetzen, betont Fischer – aber das Leiden und Sterben der Corona-Toten ein kleines bisschen sichtbarer machen.