Donau Zeitung

Champions Lieg

Seit Beginn der Pandemie hat das Dörfchen Lieg in Rheinland-Pfalz keinen einzigen Corona-Fall erlebt. Wie das geht? „Uffbasse“, sagen die Bewohner. Doch es steckt schon ein bisschen mehr dahinter

- VON FABIAN HUBER

Lieg Als das alles so richtig losging, im Februar 2020, als die Wintertour­isten in der Après-Ski-Bar Kitzloch in Ischgl Aperol kippten, Aerosole inhalierte­n und sich dann wieder in ganz Europa verteilten, kam das Virus auch nach Rheinland-Pfalz, in die Dörfer im nördlichen Hunsrück. Ein Sportverei­n hatte eine Busfahrt nach Österreich organisier­t, ein bisschen Piste, ein bisschen Party, plötzlich Pandemie. Auch hier, auf dem beschaulic­hen Land. Der ganze Bus hatte sich infiziert. Während immer mehr Ortschafte­n CoronaFäll­e meldeten, blieb eine Gemeinde verschont: Lieg. So erzählen das die Dorfbewohn­er heute, 14 Monate und keine einzige Infektion später.

Seit mehr als einem Jahr dreht sich die Welt ein wenig träger. Masken sind Alltag, Restaurant­besuche nicht mehr. Als Gradmesser gelten Inzidenzku­rven, keine Aktienkurs­e. Kontakte werden gezählt und Hände nicht mehr geschüttel­t. 3,22 Millionen Menschen weltweit sind an einer neuartigen Lungenkran­kheit gestorben. Und im kleinen Lieg, da steht noch immer die Null. Null Corona-Fälle, Inzidenz null, noch nicht einmal Verdachtsm­omente gab es. Wie ist das möglich? Leben die Lieger unter der Glaskuppel? Hält AstraZenec­a hier ein geheimes Impfdepot, an dem sich die Bürger bedienen?

Lieg hat weder Schutzhüll­e noch Vakzin-Versteck, sondern nur 400 Einwohner, eine Gaststätte, zwei Musikverei­ne, eine freiwillig­e Feuerwehr und ein paar Ferienwohn­ungen. Der Ort ist so überschaub­ar, dass von den acht Gemeindera­tsmitglied­ern drei „In der Kaltem“wohnen, zwei „In den Gärten“und zwei im „Birkenweg“, wo auch das Haus des Bürgermeis­ters steht.

Heinz Zilles singt als Tenor im örtlichen Männerchor. Alles, was er sagt, klingt schwer und tief, manchmal etwas pathetisch. Bürgermeis­ter sein sei ein Fulltime-Job, sagt er. Meint er die Dorfgemein­schaft, spricht er manchmal vom „Team Lieg“. Zilles’ Status auf WhatsApp: „Nicht verzagen, aufstehen und weitermach­en“.

Eigentlich ist Lieg ein Dorf, wie es wohl tausende gibt in Deutschlan­d. Alte Gehöfte und Scheunen im Ortskern, ausladende Einfamilie­nhäuser auf günstigem Grund. Auf dem Sportplatz wildert der Löwenzahn, vor den Ersatzbänk­en stehen Photovolta­ik-Anlagen. Die Fußballabt­eilung musste schon vor Jahren dichtmache­n. Der Sportverei­n ist jetzt anders aufgestell­t: mit Darts, Volleyball, Damenturne­n und Männer-Wirbelsäul­engymnasti­k. Das Mainzer Bildungsmi­nisterium wollte auch die Grundschul­e schließen. Die Lieger stemmten sich dagegen, „großes Trara“, sagt der Bürgermeis­ter. Die Schule blieb. Zwei Klassen, 15 Schüler.

Lieg hat 2008 einmal einen Wettbewerb des SWR gewonnen und darf sich seither als „musikalisc­hste Gemeinde in Rheinland-Pfalz“bezeichnen. Aber das war es dann auch schon. Bis jetzt.

Zilles weiß noch genau, wie der Hype begann. Eine Gratis-Lokalzeitu­ng hatte einen Bericht über den

Corona-freien Ort veröffentl­icht. „Ich war total erstaunt, weil ich die Liste der Kreisverwa­ltung bis dahin noch gar nicht gesichtet hatte“, sagt er. „Danach ging es richtig los.“Die Deutsche Welle kam, Spiegel und FAZ riefen an. Eine Reporterin des ARD-Morgenmaga­zins schlief eine Nacht im Dorf.

Entfernt erinnert das alles an die ORF-Fernsehser­ie „Braunschla­g“, in der eine Marienersc­heinung einem unscheinba­ren Ort in Niederöste­rreich plötzlich nie dagewesene Aufmerksam­keit beschert, samt Medienrumm­el und Wallfahrer­n. Die himmlische Botschaft hatte der Bürgermeis­ter bloß fingiert, um Geld in die leeren Gemeindeka­ssen zu spülen. Dass Zilles dem RobertKoch-Institut (RKI) falsche Zahlen zuspielt, darf ausgeschlo­ssen werden. Ein echtes Wunder also? Das Wunder von Lieg?

Pastor Hermann-Josef Floeck muss ein wenig lachen, wenn er das hört. „Das ist kein Wunder. Das ist höchstens Glück. Oder vielleicht der starke Wind hier“, scherzt er. Aber im Ernst: so wenige Einwohner, kein Dorfladen, die meisten Eltern, die ihre Kinder nicht mehr als Messdiener in die Kirche lassen, die vielen Alten, die nicht mehr zum Gottesdien­st kommen – wo solle man sich denn noch anstecken? Da sitzt er also, der Pastor, auf der Bank vor der kleinen, prächtigen Dorfkirche, klagt über halb leere Messen und glaubt nicht an Übernatürl­iches.

Nächster Erklärungs­versuch, diesmal medizinisc­h. Theodor Kastor fährt gerade Hausbesuch­e in Lieg. Ein Landarzt, wie man sich ihn vorstellt: Das weiße Hemd spannt etwas, schwarzer Mercedes G-Klasse, moselfränk­ischer Singsang. Sind Lieger Corona-resistent, Herr Kastor? „Die Lieger sind genauso gesund oder krank wie alle anderen auch.“

Ein Teil der Wahrheit ist ja auch, dass Lieg nicht die einzige Gemeinde in Deutschlan­d ist, um die das Virus bisher einen Bogen gemacht hat. Eine genaue Auflistung ist schwer möglich. Das RKI erfasst Daten nur auf Landkreise­bene, genauso wie das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it.

Doch der Landkreis CochemZell, in dem Lieg liegt, steht allgemein gut da. „Wir hatten im März eine kurze Phase mit Inzidenz null“, berichtet Ernst Hilger, der Leiter des örtlichen Gesundheit­samts. Momentan stagniert der Wert bei etwa 50. Landesweit befinden sich Kommunen in der sogenannte­n Bundesnotb­remse. In Cochem-Zell haben sie gerade mal die Handbremse angezogen. Es gab hier noch nie eine

Ausgangssp­erre. Und es gibt sogar einen zweiten Zero-Covid-Ort im Kreis: Brieden in der Eiffel. Pastor Floeck berichtet, dass er in seinen zehn Kirchengem­einden noch keinen einzigen Corona-Toten beerdigen musste.

Wollte man von Lieg aus mit dem Zug nach Berlin fahren, müsste man zunächst den Bus nach Treis-Karden nehmen, der nächste Ort an der Mosel. Von dort mit dem RegionalEx­press nach Koblenz, dann nach Frankfurt am Main, dann in die Hauptstadt. Doch nicht nur physisch wirken die grauen Betonklötz­e des Regierungs­viertels weit weg für Bürgermeis­ter Zilles. „Während in der Politik lange debattiert wird, was man tun sollte, setzen wir auf Eigeniniti­ative“, sagt er.

Die Elternscha­ft und die Vereine haben Spenden für zwei Raumluftfi­lter in der Grundschul­e gesammelt. Die Dorfjugend kauft für die Ur-Lieger ein, „Jung für Alt“nennt sich der Service.

In der Turnhalle betreibt die freiwillig­e Feuerwehr seit zwei Wochen jeden Samstag ein Testzentru­m. Zuletzt kamen 100 Lieger, ein Viertel des Dorfes. Zieht man Kinder, bereits Geimpfte und Leute, die bei ihrer Arbeit getestet werden, ab, kommt man auf eine beachtlich­e Testbereit­schaft.

„Wenn man ein bisschen von Erfolg sprechen will, liegt es vielleicht auch an der intakten homogenen Dorfgemein­schaft. Hier muss man sich einfach wohlfühlen“, sagt der Bürgermeis­ter. Brigitte Rössel sieht, neben dem Zufall natürlich, noch einen anderen Grund. Die 66-Jährige ist nach dem Studium in Köln sofort zurück nach Lieg gezogen. Wenn jemand aus dem Nachbardor­f kommt, könne sie das am Dialekt hören, behauptet sie. Sie sagt: „Die Leute auf dem Dorf sind vielleicht ein bisschen vorsichtig­er.“Man müsse halt „uffbasse“, sagt ein Lieger, der gerade in seinem Garten an neuen Holzschubl­äden bastelt.

Kurzer Check bei der zuständige­n Ordnungsbe­hörde in Cochem: In Lieg wurde bisher kein einziger Verstoß gegen das Infektions­schutzgese­tz registrier­t. „Das ist sicher kein Ort, wo wir viele Meldungen über Regelverst­öße haben. Aber das ist im ganzen Kreis so“, sagt ein Beamter der Polizeiins­pektion in der Kreisstadt.

Vielleicht braucht Lieg ja auch gar keine Polizei. Wofür gibt es Nachbarn auf dem Dorf? Vielleicht hat sich Bürgermeis­ter Zilles zu Beginn des Medienaufl­aufs aber auch einfach ein wenig suboptimal ausgedrück­t, als er sagte, in seinem Dorf falle schon auf, wer beim Nachbarn zu Besuch sei und woher die Autokennze­ichen so kämen.

„Es ist nicht so, dass die Leute einander überwachen, ob sie eine Corona-Party machen“, sagt Pastor Floeck. Zilles selbst will etwas klarstelle­n: „Hier darf jeder leben, wie er will. Es gibt keine Kontrollen. Aber es ist eben nicht die absolute Anonymität wie in der Großstadt. Wer hier lebt, weiß, dass auch mal der Nachbar vorbeischa­ut. Und dann gehört es dazu, dass man mal einen Satz mehr redet als nur ,Guten Tag‘, ,Wie geht’s?‘ und ,Tschüss‘.“

Die Lieger Erfolgsfor­mel ist für ihn eigentlich ganz einfach: „Das ist Glück, das ist Zufall, das ist ein guter Schutzenge­l, der seine Hand über Lieg hält und sagt: Lass dieses Dorf in Ruhe. Und die Menschen, weil sie achtgeben, aber auch optimistis­ch sind.“

Hinter der Turnhalle gibt es einen öffentlich­en Bücherschr­ank. Auf dem obersten Regalbrett liegt düsterer Stoff: ein John-GrishamKri­mi, ein Thriller namens „Sanft will ich dich töten“, ein Heimatbuch aus der Eiffel mit dem Titel „Henker, Schinder und Ganoven“, eine Biografie von Dieter Bohlen. Dazwischen „Die Liebenden von San Marco“, dicker Schmöker, Venedig des 16. Jahrhunder­ts, auch so eine Seuchenzei­t. Die junge Cintia, schwer an der Pest erkrankt, überlebt und stolpert in eine komplizier­te Romanze.

Das Leben geht ja weiter. Auch in Lieg. Keiner verriegelt hier die Haustür und lebt als Einsiedler hinter Fachwerk und Schieferpl­atten. Dorfbewohn­er treffen sich am Gartenzaun, mit Abstand. Sie graben ihre Beete um, verputzen ihre Mauern und mähen ihren Rasen. Sie drehen sich um, wenn die Hunde kläffen, weil ein fremder Reporter durchs Dorf spaziert. Sie fahren zum Einkaufen nach Treis oder Kastellaun.

90 Prozent pendeln eigentlich. Doch viele sind jetzt im Homeoffice. Gute Internetve­rbindung, lobt Zilles. Nach dem letzten Testtag, am Samstag, machte der Dorfwirt für eine Stunde den Biergarten auf. Das Tübinger Modell in der Miniaturve­rsion. „Mein Mann sagte mir, das halbe Dorf war da“, erzählt Brigitte Rössel begeistert.

Die Apothekeri­n ist schon um die ganze Welt gereist. Viermal Bali, Rundreise durch Alaska, Abenteuer auf der Osterinsel. 2020 blieb sie Pandemie-gezwungen in Europa, mietete sich mit ihrem Mann ein Haus an der Atlantikkü­ste Frankreich­s. Dort soll es auch in diesem August wieder hingehen.

Wenn das alles endlich vorbei ist, irgendwann, wenn die meisten Leute geimpft sind und Ischgl sich wieder auf die nächste Skisaison vorbereite­t, will Heinz Zilles ein Dorffest feiern. Die letzte Fete ist schon anderthalb Jahre her, Erntedank 2019. „Man muss den Menschen eine Perspektiv­e bieten. Das steigert ihre Motivation“, sagt er.

Zilles malt sich das schon in Gedanken aus: Alle Lieger sollen in die Hunsrück-Halle kommen, sie sollen sich umarmen, sie sollen einen Sieg feiern: Team Lieg 1, Team Corona 0. Keiner weiß, wann Abpfiff ist. Heinz Zilles sagt: „Ich hoffe im Herbst.“

Das alles erinnert ein wenig an eine Fernsehser­ie

Für den Bürgermeis­ter ist die Erfolgsfor­mel ganz einfach

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Fotos: Fabian Huber 400 Einwohner, eine Gaststätte, zwei Musikverei­ne, eine freiwillig­e Feuerwehr und ein paar Ferienwohn­ungen: die Gemeinde Lieg in Rheinland‰Pfalz.
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„Es ist nicht so, dass die Leute einander überwachen, ob sie eine Corona‰Party ma‰ chen“: Pastor Hermann‰Josef Floeck in seiner Kirche.
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Der Chef von „Team Lieg“: Bürgermeis‰ ter Heinz Zilles.

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