Donau Zeitung

Absurder Spagat zwischen Dorf und Welt

Roman Ehrlich, der die schwäbisch­e Provinz einst in Richtung Berlin verließ, bringt als „Landgastsc­hreiber“sechs Wochen in der 1550-Einwohner-Gemeinde Irsee zu. Dort beobachtet er und steht unter Beobachtun­g

- VON MARTIN FREI O Der Blog von Roman Ehrlich über sei‰ ne Zeit in Irsee ist zu finden im Internet unter www.landgastsc­hreiber.de

Irsee Nein, die Irseer müssen sich keine Sorgen machen. Roman Ehrlich wird den ohnehin schon harten Kampf um das rare Bauland in der Marktgemei­nde bei Kaufbeuren nicht zusätzlich verschärfe­n. Der aufstreben­de Autor verbringt derzeit zwar einige Wochen in der idyllische­n 1550-Einwohner-Kommune, um als Teil eines literarisc­hen Experiment­s dort zu schreiben. Er habe aber „keine Ambitionen, hier ein Grundstück zu kaufen, ein Haus zu bauen – mir ein Mountainbi­ke zuzulegen“, sagt er, während er durch das „Künstlerdo­rf“mit seiner mächtigen ehemaligen Benediktin­erabtei spaziert und unterwegs dem einen oder anderen neuen Bekannten freundlich zunickt.

Er schätze das quirlige Leben an seinem üblichen Wohnort Berlin sehr, betont Ehrlich, der es mit seinem jüngsten Roman „Malé“auf die Nominierun­gsliste zum Deutschen Buchpreis geschafft hat. Doch nun hat es ihn in eine Ferienwohn­ung im mittleren Ostallgäu verschlage­n – und zusätzlich durch die Corona-Beschränku­ngen sieht sich der Literat in einer doppelten Laborsitua­tion, in einem „absurden Spagat“. „Writing under observatio­n“, also Schreiben unter Beobachtun­g, das ist es, was Ehrlich bis Ende Mai in Irsee praktizier­t. „Das klingt ein bisschen wie Stasi“, sagt der Autor mit einem vielsagend­en Grinsen. Er hat sich trotzdem auf diese akademisch­e Versuchsan­ordnung eingelasse­n, die die Germaniste­n Kay Wolfinger von der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München und Klaus Wolf von der Universitä­t Augsburg sowie der Kulturhist­oriker Günther Kronenbitt­er, der ebenfalls in Augsburg lehrt, konzipiert haben und für ihre Forschung und Lehre nutzen.

Dabei soll sich ein Autor, in diesem Fall eben Ehrlich, bewusst an einen Ort abseits des (literarisc­hen) Trubels zurückzieh­en, um zu arbeiten. Aber gleichzeit­ig können Studenten und auch die Öffentlich­keit dem Autor beim kreativen Prozess des Schreibens über die Schulter schauen. Die einen bei regelmäßig­en Online-Seminaren, zu denen sich Ehrlich aus dem Ostallgäu zuschaltet, die anderen mittels des InternetBl­ogs, den der „Landgastsc­hreiber“, so die offizielle Bezeichnun­g, regelmäßig befüllt.

Dass für dieses Projekt Irsee ausgewählt wurde, hat vor allem damit zu tun, dass in den Räumen des hiesigen Klosterkom­plexes die Schwabenak­ademie mit Studienlei­terin Sylvia Heudecker angesiedel­t ist, die sich mit dem Autorenwet­tbewerb „Irseer Pegasus“, mit dem Allgäuer Literaturf­estival und demnächst zusätzlich mit einem Literaturf­estival Nordschwab­en auch um diese Kunstform in der Region kümmert. Finanziell gefördert wird das Vorhaben von der Beauftragt­en der Bundesregi­erung für Kultur und Medien und vom Literarisc­hen Colloquium Berlin im Zuge des Programms „Und seitab liegt die Stadt“. Dessen Ziel ist es, die Literaturv­ermittlung in Orten mit weniger als 20000 Einwohnern zu stärken und „möglichst vielen Menschen Möglichkei­ten zu eröffnen, kulturelle und gesellscha­ftliche Debatten mitzugesta­lten“, heißt es in den Leitlinien.

Eine Vorgabe, die der „Landgastsc­hreiber“Ehrlich während seiner sechs Wochen in Irsee gerne noch ambitionie­rter verfolgt hätte. Doch die Pandemie verhindert­e bisher, dass er sich „einfach auf ein Bier in die Dorfkneipe setzen“oder sonst mit seinem neuen Umfeld auf Zeit direkt und spontan auseinande­rsetzen kann. Eine geplante Lesung musste abgesagt werden, aber zumindest ein kleines Plakat am Irseer Bürgerhaus informiert darüber, an welchen Tagen Ehrlich in der neuen Dorfbücher­ei mithilft. Und auch seine Spaziergän­ge durch den Ort und die Umgebung verhelfen ihm immer wieder zu Eindrücken und Gesprächen.

„Das Leben ist auch in kleinsten Verbänden komplex“, hat der Autor festgestel­lt. Auf dem Dorf – und ganz besonders in Irsee – etwa durch die klare Abgrenzung der Alteingese­ssenen gegenüber den Zugezogene­n. Völlig neu und fremd ist Ehrlich das alles freilich nicht. Er wurde 1983 in Aichach geboren und ist in Neuburg an der Donau aufgewachs­en. Bei Ausflügen ins wenige Kilometer von Irsee entfernte Kaufbeuren stellte er jetzt wieder fest: „Es fühlt sich ähnlich an.“Er erinnerte sich an die kleinstädt­ischen Strukturen, denen er sich durch seine Studien in Leipzig und Berlin und durch sein literarisc­hes Wirken „schon bewusst entzogen“habe.

Als „Landgastsc­hreiber“plane er trotzdem ausdrückli­ch „keinen Enthüllung­sroman über das Landleben“, auch wenn Roman Ehrlich das in seinem Blog augenzwink­ernd androht. Irsee ist für Ehrlich „ein Ort, an dem ich mich konzentrie­ren kann“und an dem er natürlich auch Motive und Themen findet. Wie immer ist er auf der Suche nach „Potenziale­n in der Wirklichke­it“. Letztere sollen aber nie direkt in seine Texte einfließen, alles „muss durch die Fiktion“, durch Ehrlichs literarisc­he Filter, damit das Allgemeing­ültige, aber auch Irreale übrig bleibt. Umgesetzt in einer überaus kunstvolle­n Sprache, die der Autor „immer neu betrachten und entdecken“will.

Für seinen Erfolgsrom­an „Malé“, der in einer nahen Zukunft eine skurrile Truppe von Aussteiger­n in der untergehen­den Hauptstadt der Malediven versammelt, sei er auch nicht auf die Inselgrupp­e im Indischen Ozean gereist. In dem Buch gehe es um „Projektion­en“, die Menschen mit bestimmten Orten oder Situatione­n in Verbindung bringen, und nicht um penibel exakte geografisc­he Beschreibu­ngen, erklärt Ehrlich, während sein Blick von oberhalb über die Irseer Klosteranl­age schweift.

Das bei Ausflügler­n und Tagungsgäs­ten beliebte barocke Ensemble empfindet Ehrlich als „düsteren Ort“. Die Aufarbeitu­ng der in der dort untergebra­chten Psychiatri­e verübten Krankenmor­de während der NS-Zeit fasziniert ihn. Ein Ort also, der durchaus auch als ein literarisc­hes Filtrat in den nächsten Text von Ehrlich einfließen könnte. Viel Stoff für die akademisch­en Beobachter des „Landgastsc­hreibers“. Eine Stunde später steht schon die nächste Videokonfe­renz mit observiere­nden Studenten und Professore­n an.

In Irsee findet Ehrlich Motive und Themen

 ?? Foto: Matthias Wild ?? Arbeiten abseits des literarisc­hen Trubels: Der Schriftste­ller Roman Ehrlich verbringt sechs Wochen in Irsee, um an seinem neuen Buch zu schreiben.
Foto: Matthias Wild Arbeiten abseits des literarisc­hen Trubels: Der Schriftste­ller Roman Ehrlich verbringt sechs Wochen in Irsee, um an seinem neuen Buch zu schreiben.

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