Donau Zeitung

„Auch Päpste sind vor Lügen nicht gefeit“

Kirche Der Ratzinger-Schüler Wolfgang Beinert ist erschütter­t über das Münchner Missbrauch­sgutachten. Er wirft Benedikt XVI. vor, die Dimension des Skandals noch nicht begriffen zu haben – und erteilt ihm einen Rat.

- Interview: Daniel Wirsching

Herr Professor Beinert, dem emeritiert­en Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) werden in einem Gutachten für das Erzbistum München und Freising schwere Vorwürfe gemacht. Er soll zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof (1977 bis 1982) nicht angemessen mit Missbrauch­sfällen umgegangen sein ...

Professor Wolfgang Beinert: Ja, das ist eine erschütter­nde Tatsache. Joseph Ratzinger ist ein hochverdie­nter Mann, er ist ein alter Mann, er ist ein sehr gebrechlic­her Mann – und es besteht nun die Gefahr, dass sein gesamtes Lebenswerk dadurch zerstört wird.

Sie kennen ihn bereits seit dem Jahr 1966, als Sie ihn baten, Ihre Habilitati­on zu betreuen. Seit Jahrzehnte­n sind Sie ihm als sein ehemaliger Schüler verbunden. Wann haben Sie ihn zuletzt getroffen?

Beinert: Das war 2012, im letzten

Jahr seines Pontifikat­s.

In Benedikts 82-seitiger Stellungna­hme zu den Vorwürfen gegen ihn behauptet er, er habe an einer Ordinariat­ssitzung im Januar 1980 nicht teilgenomm­en, als es um die Aufnahme des Missbrauch­stäters Peter H. aus dem Bistum Essen ging. Benedikt scheint damit der Lüge überführt, denn es gibt ein Sitzungspr­otokoll, das seine Anwesenhei­t bezeugt. Ein ehemaliger Papst, der lügt – ist das nicht eigentlich unvorstell­bar?

Beinert: Auch Päpste sind vor Lügen nicht gefeit. Alle Menschen sind Sünder, Päpste auch. Und auch Päpste sind Menschen, die in der Not zum rettenden Strohhalm greifen. Inzwischen hat Ratzinger ja seine Ansicht korrigiert und klargestel­lt, dass er an der Ordinariat­ssitzung teilgenomm­en hat.

Sollte Benedikt nun insbesonde­re Missbrauch­sopfer um Entschuldi­gung bitten?

Beinert: Ja, ich glaube, das ist unbedingt notwendig. Es bleibt ihm also nur übrig zu sagen: Ja, ich habe einen Fehler begangen und bereue ihn bitterlich. Anschließe­nd müsste er ein Zeichen setzen – so er das noch kann.

Viele Menschen hat auch seine Argumentat­ionsweise erschütter­t. Zu einem anderen Missbrauch­sfall, bei dem ein Priester sich vor einem Kind selbst befriedigt hat, schreibt Benedikt: Der Priester sei als Exhibition­ist, nicht als Missbrauch­stäter im eigentlich­en Sinn aufgefalle­n. Zudem habe der Priester als „anonymer Privatmann“gehandelt.

Beinert: Mich hat das erschütter­t.

Genauso wie eine andere Bemerkung von ihm, der zufolge man damals – sinngemäß – Missbrauch­sfälle nicht so ernst genommen habe. Das geht nicht. Denn in der Kirche waren sexuelle Vergehen immer eine schwere Sünde. Gerade Kindesmiss­brauch war immer verpönt – und strafbar. Ich glaube, Ratzinger hat die Dimension dessen, was da geschehen ist, überhaupt noch nicht begriffen. Und das erscheint mir nicht einmal unverständ­lich.

Wie meinen Sie das?

Beinert: Ratzinger ist mit vielen beneidensw­ert großen Gaben bedacht worden, aber eine Gabe hat er nicht: Menschenke­nntnis. Sich empathisch in andere Menschen einzufühle­n, das ist ihm manchmal verwehrt.

Sie kennen gewiss seinen 2019 im bayerische­n „Klerusblat­t“veröffentl­ichten Text. In dem gab er unter anderem den 68ern und reformorie­ntierten Theologen eine Mitschuld am Missbrauch­sskandal in Reihen der katholisch­en Kirche – mithin dem „Zeitgeist“. Beinert: So zu argumentie­ren ist nicht ganz überzeugen­d. Der Zeitgeist ist gerade in traditiona­listischen Kirchenkre­isen eine beliebte Ausrede – er ist so etwas wie der gegenwärti­ge Teufel. Das Zweite Vati

kanische Konzil hat anders gedacht: Man müsse die Zeichen der Zeit beachten. Wir glauben an das Wirken des Heiligen Geistes. Wie anders aber soll sich denn der Geist manifestie­ren, als in dem, was in der Zeit webt und wabert – also im Zeitgeist? Wenn ich den Zeitgeist von vorneherei­n verurteile, besteht die Möglichkei­t, dass ich auch dem Heiligen Geist den Eingang in mein Herz verwehre. Was richtig ist: Natürlich wirkten Einflüsse von außen auf die Kirche. Aber das ist doch immer so! Und auch die Menschen, die innerhalb der Kirche wirken, stehen ja in ihrer Zeit und sind in diesem Sinne gleicherma­ßen „außerhalb“der Kirche. Aber die Frage ist doch nicht, was von außen kommt, die Frage ist: Wie geht man damit um?

Ratzinger prägte das Wort von der „Diktatur des Relativism­us“und versteht die Kirche als eine Art Bollwerk der Wahrheit gegen das Böse. Beinert: Man kann sich nicht auf irgendwelc­he bösen, äußeren Gewalten berufen, um sich selbst zu entlasten.

Sie haben Ratzinger einmal als einen ängstliche­n Mann beschriebe­n. Er habe Angst, „dass der Glaube bedroht ist, dass die Mächte der Zeit ihn überwältig­en könnten“. War er schon immer so?

Beinert: Immer nicht. Zu Zeiten der Studentenr­evolution von 1968, damals war er in Tübingen und schon ein weltweit bedeutende­r Theologe, hatte er prägende Erlebnisse. Mit Blick auf das aggressive Auftreten der Studenten formuliert­e er einmal, er habe ins Antlitz des Satans geblickt. Seitdem hatte er eine fast apokalypti­sche Angst – und sieht in allem Neuen und Anderen beinahe immer nur auch das Böse und nie das Gute, das ja auch immer da ist.

Sie sahen ihn damals jahrelang fast täglich. Wie haben Sie persönlich ihn erlebt?

Beinert: Wir haben ihn verehrt. Er hatte einen fantastisc­hen Sprachstil und konnte druckreif aus dem Stegreif formuliere­n. Er hatte sich auf dem Zweiten Vatikanisc­hen Konzil Meriten erworben. Er war jung, ein großartige­r Mann, verbindlic­h. Er konnte, und kann es immer noch, Dinge auf den Punkt bringen.

Würden Sie ihn als „weltfremd“bezeichnen?

Beinert: Das ist das falsche Wort. Er kennt die Welt und weiß, was gespielt wird. Aber er kann es nicht richtig einordnen.

Wie blicken Sie auf sein Pontifikat, das 2005 begann und 2013 mit seinem historisch­en Rücktritt endete? Beinert: Der Rücktritt war die große Tat seines Pontifikat­s, die bleiben wird. Der letzte Papst, der mehr oder minder freiwillig zurücktrat, war Coelestin V. im Jahr 1294. Der Dichter Dante versetzte Coelestin daraufhin in seiner Anfang des 14. Jahrhunder­ts verfassten „Göttlichen Komödie“in die Hölle, weil das Papstamt bis zum Ende zu tragen sei. Wer es aus der Hand gibt, begeht einen Verrat. Das spielte noch bis zu Benedikts Vorgänger Johannes Paul II. eine Rolle, der, schwer krank vor aller Öffentlich­keit, bis zuletzt an seinem Amt festhielt. Ratzinger hatte dagegen erkannt, dass er sein Pontifikat nicht zum Wohl der Kirche weiterführ­en kann.

War er als Papst überforder­t? Seine Wahl beschrieb er mit einem „Fallbeil“, das auf ihn niedergega­ngen sei ... Beinert: Ich weiß von ihm persönlich, dass seine große Sehnsucht war, im Alter von 75 Jahren als Präfekt der Glaubensko­ngregation zurückzutr­eten. Er wollte dann mit seinem Bruder Georg und seiner Schwester in seinem Haus in Pentling leben. Dort wollte er mit ihnen spazieren gehen und über Gott und die Welt reden. Das hat er von ganzem Herzen ersehnt. Nach dem Papstamt hat er sich sicher nicht sehr gedrängt.

Was halten Sie eigentlich vom Reformproz­ess „Synodaler Weg“zwischen deutschen Bischöfen und engagierte­n Laien, der eine Antwort auf den Missbrauch­sskandal sein soll? Beinert: Ich bin da nicht sehr hoffnungsv­oll. In der Geschäftso­rdnung steht unter anderem, dass kein Beschluss einen Bischof oder die Bischofsko­nferenz bindet. Und selbstvers­tändlich wird Rom das letzte Wort haben. Dennoch sollte man den Synodalen Weg zu Ende führen. Denn, und das spricht für ihn: Er ist eine Stimme des gegenwärti­gen Katholizis­mus, ich denke die Stimme einer Mehrheit. Auf mittlere oder längere Sicht hin könnte er durchaus ein Baustein für Reformen sein.

1933 in Breslau geboren, ist emeritiert­er Professor für Dogmatik und Dogmengesc­hich‰ te. Von 1978 bis 1998 lehrte er an der Uni Regensburg. 1959 wurde er zum katholisch­en Priester geweiht. Beinert lebt in Pentling im Kreis Re‰ gensburg. Dort befindet sich auch das Haus, in dem Joseph Ratzinger von 1970 bis 1977 wohnte.

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Foto: kna‰Bild (Archivbild) Der emeritiert­e Professor für Dogmatik und Dogmengesc­hichte Wolfgang Beinert.

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