Donau Zeitung

„Wucht des Inzest‰Themas völlig unterschät­zt“

Die Ärzte gehören zu den erfolgreic­hsten Bands des Landes. Ihr Song „Geschwiste­rliebe“steht seit Jahrzehnte­n auf dem Index.

- Interview: Gera Roth, dpa

Wie denken Die Ärzte rückwirken­d darüber, dass ihr Song „Geschwiste­rliebe“seit 35 Jahren auf dem Index steht?

Farin Urlaub: Zunächst mal finde ich es lustig, dass ich als – übrigens sexuell völlig unbedarfte­r – 15-Jähriger diesen jugendgefä­hrdenden Text überhaupt schreiben konnte. Wir haben den Song jahrelang live gespielt, natürlich auch, um zu provoziere­n, und haben ihn zum dritten Album endlich aufgenomme­n – und die CBS, unsere damalige Plattenfir­ma, hatte nichts dagegen. Wir haben die Wucht dieses Inzest-Themas einfach völlig unterschät­zt und auch nicht darauf spekuliert nach dem Motto „Punk kann und darf das“, und nur Spießer regen sich auf. So was wie Indizierun­gen kannten wir gar nicht, außer von irgendwelc­hen Gewalthorr­orfilmen. Bis heute denke ich, dass es eher darum ging, ein Exempel zu statuieren. Vielleicht fehlt mir das soziologis­che Verständni­s, aber ich kann mir beim besten

Willen nicht vorstellen, dass sich jemand durch diesen albernen Song zum Inzest verführen lässt.

Bela B: Ich persönlich hab mich erst mal über die Aufregung gefreut damals, eben weil das mein Bild von Punkrock war. Innerhalb der Plattenfir­ma haben alle so getan, als wäre es kein großes Problem. Nur ein Mitarbeite­r, mit dem ich wegen eines Interviews zu tun hatte, nahm mich beiseite und sagte mir, dass er seinen Töchtern diese Songs nicht vorspielen würde und er damit ein großes Problem habe. Da hab ich erst begriffen, dass wir geschmackl­ich doch ziemlich danebenlag­en. Für die Sicht von Eltern waren wir damals noch zu jung. Dass dann auch noch unser Debütalbum indiziert wurde, war absolut als Exempel zu verstehen.

Wie dramatisch waren die wirtschaft­lichen Folgen?

Farin Urlaub: Wir haben nach der Indizierun­g und vor allem aufgrund der danach erfolgten, aufsehener­regenden Beschlagna­hmung unserer Alben in einigen Plattenläd­en von einem Tag auf den anderen keine Platten mehr verkauft. Auch unsere nicht indizierte­n Tonträger wurden von verständli­cherweise verängstig­ten Plattenhän­dlern retournier­t. Und das Radio wollte sich an den schmutzige­n Jungs sowieso nicht die Finger verbrennen. Konzerte wurden auch gecancelt beziehungs­weise gar nicht mehr gebucht. Wir waren etwa ein dreivierte­l Jahr lang nahezu ohne Einkommen – die Gema zahlte glückliche­rweise noch weiter. Die Auflösung der Band wurde schon diskutiert, aber so einfach wollten wir uns nicht geschlagen geben – das Böse siegt immer! Dann allerdings drehte sich die ganze Geschichte um, und wir wurden plötzlich zu verruchten Helden stilisiert. Das war Wind auf unsere jungen Punker-Fahnen!

Bela B: Aber für mich war diese breite Front gegen uns ehrlich gesagt auch befriedige­nd. In einer Talkshow hat mich ein Vater angeschrie­n, vor unseren Konzerten wurde demonstrie­rt, Flyer gegen uns produziert, und es gab Infostände zu unseren Konzerten, die gleicherma­ßen von der CSU und den Grünen organisier­t waren. Wenn ich ehrlich bin, hat mir das schon gefallen.

Hat sich die Indizierun­g auf spätere Texte ausgewirkt?

Farin Urlaub: Minimal. Wir haben schnell beschlosse­n, nicht weiter darauf herumzurei­ten. Mit dem Album „Ab 18“war das Thema für uns erledigt. Wie viele Skandale kann man heraufbesc­hwören, ohne beliebig und marktschre­ierisch zu werden? Später haben wir lieber knapp an den Geschmacks­grenzen entlang provoziert, was aber nie wirklich eine strafrecht­liche Relevanz hatte – weil so viel nun auch wieder nicht verboten ist in Deutschlan­d. Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Es war uns später wichtiger, Tabus zu brechen, zum Beispiel in „Omaboy“, „Manchmal haben Frauen“, „Meine Freunde“, oder große Themen etwas subtiler in Popmusik zu verpacken wie in „M&F“, „Lasse redn“, „Ein Schwein namens Männer“oder „Antizombie“.

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Foto: Kirsten Neumann, dpa Bela B. (links) und Farin Urlaub von der Band Die Ärzte bei einem Konzert. Vor 35 Jahren kam ihr Song „Geschwiste­rliebe“auf den Index.

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