Hollywoods Lieblingsgangster
75. Todestag Ein dunkel schillernder Antiheld als Spiegel der gesellschaftlichen Abgründe: Die Geschichte des echten Al Capone und seine Wirkung in legendären Filmen.
Und dann, am Ende eines kleinen Exzesses mitten im bürgerlich schicken Restaurant, von allen angestarrt, platzt ihm der Kragen: „Was glotzt ihr denn so? Ihr seid doch ein Haufen Arschlöcher! Wollt ihr wissen, warum? Ihr habt nicht mal den Mut, so zu sein, wie ihr sein wollt! Ihr braucht doch Typen wie mich! Ihr braucht Typen wie mich, damit ihr mit euren Fingern auf mich zeigt und sagt: Das da ist der Bösewicht! Und? Was seid ihr dadurch? Gut? Ihr seid nicht gut. Ihr wisst nur, wie ihr euch versteckt und wie ihr leben könnt. Aber ich… – ich hab solche Probleme nicht. Denn ich sag immer die Wahrheit, sogar wenn ich lüge!“Und damit, eine Vielzahl eingestreuter F-Wörter freilich ausgelassen, tritt er ab, im Original: „So say good night to the bad guy!“
Das ist Al Pacino in der Hauptrolle von Brian de Palmas Film „Scarface“1983. Und ist das nicht schon die Moral dieser Geschichte? Dass hier ein dunkel schillernder Gangster der Gesellschaft einen Spiegel vorhält, in dem sie sich selbst, schaudernd, mit ihren vor sich selbst verborgenen Abgründen erkennen kann und soll?
„Scarface“: Das jedenfalls war der Spitzname von Alfonso Gabriel Capone wegen der drei langen Narben im Gesicht, die er mit 18 Jahren von einem Messerkampf wegen einer Frau noch in seiner Geburtsstadt New York davontrug – die Eltern aus Neapel eingewandert, der Vater Friseur. Dieser Sohn der insgesamt neun Kinder war aber da längst als Laufbursche von Wucherern und
Schutzgelderpressern auf dem Weg zum Gangster. Und „Scarface“: So hieß auch bereits im Jahr 1932 der erste Film über ihn, denn da war Capone selbst längst zu Amerikas berüchtigtstem Gangster aufgestiegen, dem ersten so betitelten „Staatsfeind Nr. 1“– aber war eben da auch gerade zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Bei all den Morden, die er als Mafia-König von Chicago begangen und in Auftrag gegeben hat bis hin zum „ValentinstagMassaker“1929, bei der Unterwanderung der Prohibition, organisierter Prostitution, Bestechung, Glücksspiel… – letztlich wurde er wegen Steuerhinterziehung drangekriegt und ins Hochsicherheitsgefängnis Alcatraz gesperrt. Aber das konnte der Film damals so unverstellt kaum darstellen. In freier Anverwandlung geht es um seinen Aufstieg, seinen Fall, beginnt hier und zunächst sofort von der Zensur kassiert: die Faszination, die Hollywood-Legende Capone.
Erst 2020 wurde diese mit Wucht dekonstruiert. Da nämlich spielte Tom Hardy in Josh Tranks „Capone“jenen Mann, der vor jetzt 75 Jahren am 25. Januar 1947 kurz nach seinem gerade mal 48. Geburtstag und seit der Haftentlassung zurückgezogen in Florida lebend, geradezu an den Folgen einer Syphilis eingegangen, zum Geisteszustand eines Zwölfjährigen regrediert, letztlich an einer Lungenentzündung und einem Schlaganfall gestorben ist, geradezu demütigend entzaubert: dement, inkontinent, mit schlabbernden Windeln, aufgedunsen und schwitzend, die lange Jahre unvermeidliche dicke Zigarre im
Mundwinkel gegen Ende durch eine Karotte ersetzt. Denn das AllzuMenschliche gerade auch am Ikonischen liegt im Markenkern des Biopic-freudigen Hollywood im 21. Jahrhundert.
Zuvor hatte die Weltfilmhauptstadt freilich an der Legendenbildung mitgewirkt. Denn die Härte der Wirklichkeit auf den Straßen und das erhellend Dunkle eines Antihelden, das also, womit Richard Wilsons „Al Capone“von 1959 schon punktete, wurde zum Rezept von „New Hollywood“. Roger Cormans den Valentinstag verarbeitendes „Chicago-Massaker“1967 war ein Vorbote dessen, was sich fünf Jahre später nach und nach mit stilprägenden Werken durchsetze wie
Coppolas „Der Pate“und Lumets „Serpico“, Scorseses „Hexenkessel“und „Taxi Driver“: Schluss mit der Traumfabrik! Hier erwachten gesellschaftliche Albträume in ästhetischer Hingabe zum Leben. Und mittendrin nehmen auch Weltkarrieren von Schauspielern ihren Ausgang, vor allem: Al Pacino und Robert De Niro.
Und beide wurden jeweils in der Regie von Brian De Palma, der zuvor unter anderem das Grauen durch „Carrie“erweckt hatte, zu unsterblichen Verkörperungen Al Capones. „Weißt Du was Kapitalismus ist? – Angeschissen werden!“Bei Al Pacino kommt die ganze Skrupellosigkeit, die ganze Härte, die ganze Brutalität zum Ausdruck.
Im Drehbuch von Oliver Stone verwandelt er sich als aus Kuba geflohener und in Miami zum KokainBoss aufsteigender Tony Montana das Narbengesicht Capone an – bis zu einem finalen Blutbad-Exzess, der den im Erfolg genährten Wahnsinn dieses noch mit eiskaltem Kalkül aufgestiegenen Gangsters auf die Spitze treibt.
„Ich wuchs in einem rauen Stadtviertel auf. Dort galt der Grundsatz: Du kommst mit freundlichen Worten und einer Waffe weiter als nur mit freundlichen Worten.“Das sagt Robert De Niro in Brian De Palmas „The Untouchables – Die Unbestechlichen“vier Jahre später. Und stellt zwar auch er den Größenwahn der Figur aus – immerhin hat der echte Gangster nicht nur Polizei und Politik bis in die Spitzen kontrolliert, sondern in seiner Hochphase auch bis zu 100 Millionen Dollar pro Jahr verdient. Hier aber – gejagt übrigens von Kevin Costner, Andy Garcia und dem dafür oscarprämierten Sean Connery – kommt auch der Gentleman Capone zum Zuge: Der liebenswürdig sein konnte, Opern liebte, nicht nur mit Alkohol offenbar für sehr viel gute Laune sorgen konnte und mit Armenspeisungen auch ein bisschen Robin Hood gab.
„Kapitalismus ist die legitime Gaunerei der herrschenden Klasse.“Das hat Capone höchst selbst gesagt, der sich die Gesetze deshalb gerne zunutze machte. Nun haben sich die Märkte längst seiner selbst bemächtigt. Seine Lieblingspistole, ein Colt M1911, wurde kürzlich für über eine Million Dollar versteigert. So spiegelt der Gangster noch heute Amerika. „Gut? Ihr seid nicht gut!“
„New Hollywood“hieß: Schluss mit Traumfabrik!