Francesca Melandri: Alle, außer mir (39)
DStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
ieses Gleitboot wirkt nicht viel länger als seine Chance und vielleicht doppelt so breit. Vollgepackt wie ein Frachter, der nach Volumen bezahlt wird, was ja der Realität entspricht, schätzt er, dass sich auf dem Boot etwa hundert Personen befinden.
„Wie viele Tage seid ihr so herumgetrieben?“
„Keine Ahnung. Es war schwer zu zählen.“
Attilio sieht den Jungen an, ihm fällt nichts dazu ein.
Als in den achtziger Jahren die Häuser auf dem Esquilin wegen der U-Bahn-Bauarbeiten einstürzten und die Wohnungen billig verhökert wurden, ergriffen neben Attilio Profeti auch andere schlaue Investoren die Gelegenheit. Als dann in den folgenden zehn Jahren die vielen Einwanderer kamen und irgendwo schlafen mussten, roch der eine oder andere das Geschäft. Die Besitzer vermieteten die Wohnungen an Strohmänner, fast immer Italiener, die sie an eine ständig wachsende
Zahl Straßenhändler aus Bangladesch untervermieteten, die in die Stadt strömten. Der Einzelne zahlte nicht viel, doch konnte man die kleine Summe vervielfachen, indem man in jedes Zimmer acht oder zehn Betten stellte und möglichst noch ein Rotationssystem von zwei oder sogar drei Schichten in vierundzwanzig Stunden einführte. So verdiente mancher an diesen armen, müden Körpern mit der Zeit eine ansehnliche Summe.
Zwei der vielen Bangladescher aus dem illegalen Schlafsaal im ersten Stock, aus dem besonders gemeine Knoblauchschwaden in den Hof steigen, halten Ilaria nun das Haustor auf. Sie hat noch nie durchschaut, wie viele dort wohnen, in den dicht an dicht stehenden Etagenbetten. Allerdings kann sie sich vorstellen, dass in diesen Räumen keinerlei Standards von Hygiene oder Komfort möglich sind. Alle sind sehr freundlich zu ihr, fast schon zuvorkommend. Vor einiger Zeit hatte sie sich den Knöchel gebrochen, und immer fand sich jemand, der ihr die Tasche in den sechsten Stock tragen wollte; wenn sie mit ihren Krücken die Treppe hinaufhumpelte, warteten sie bereits auf dem Treppenabsatz und feuerten sie an, als sei sie beim Giro d’Italia in den Dolomiten. Doch ist es ein ständiges Kommen und Gehen in der Wohnung, und Ilaria hat niemals jemanden mit Namen kennengelernt.
Vormittags arbeiten fast alle schwarz auf dem Obst- und Gemüsemarkt, den übrigen Tag verkaufen sie Regenschirme auf den Straßen und Plätzen. Ilaria hat herausgefunden, dass sie zuverlässiger sind als jede Wettervorhersage: Wenn sie mit ihren Bündeln über dem Arm das Haus verlassen, heißt das auch bei Sonnenschein, dass bald ein Sturzregen auf Rom niedergehen wird. Wenn sie Stunden später wieder die nassen Bürgersteige heraufkommen, tauchen vor den Fensterbänken im ersten Stock die zum Trocknen aufgehängten Schuhe an den Wäscheleinen auf.
Ilaria bedankt sich bei den beiden Bangladeschern und betritt das Haus. Wovon sollen sie nur in diesem trockenen Sommer leben, fragt sie sich. Von Regen seit Wochen keine Spur.
Muammar al-Gaddafi wollte ein Eis essen. Das hat er den Journalisten
gesagt, die ihn belagerten, und die vor Muskelkraft strotzende Mauer der polizeilichen Leibwache durchbrochen, mitten in dem bunten Treiben der Menschen, die die abendliche Frische genossen. Und er kam auch ohne Beduinenmantel und Militäruniform mit Heldenbildern des anti-italienischen Widerstands aus. Um sein Eis zu schlecken (Sorten: Mango, Zitrone und Schokolade) und als stinknormaler Tourist durch das nächtliche Rom zu spazieren, trug er ein Hemd mit Blumenmuster. Hinter der Piazza Navona hat er dann bei einem tunesischen Straßenhändler Modeschmuck im Wert von dreihundert Euro gekauft.
Ilaria verfolgt den Bericht über den Oberst, eine ganz ungewohnte Version von Audrey Hepburn und Gregory Peck in Ein Herz und eine Krone, während im Ofen Attilios Steinbutt schmort. Er hat ihn bei Rosci gekauft, der komplett rothaarigen Familie – Vater, Mutter, diverse Kinder –, die den einzigen Fischstand auf dem Esquilin-Markt führen, dem er traut. Er hat Ilaria zum Abendessen eingeladen, als er sie auf der Treppe hörte, und nach diesem Tag zwischen glühenden Stoßstangen und stinkenden Abgasen hat sie gern eingewilligt. Außerdem freute sie der Anblick ihres Bruders, der mit dem Jungen in einvernehmlichem, quasi vertrautem Schweigen Kartoffeln schält. Als habe sich Attilio an die Anwesenheit dieses aus weiter Ferne kommenden Vielleicht-Verwandten gewöhnt.
Nun folgt ein Ausschnitt der gemeinsamen Pressekonferenz von Gaddafi und Berlusconi am Nachmittag. Der italienische Premierminister, in die Brust geworfen vor den Flaggen Italiens und Libyens, nennt den Gast einen Mann von enormer Weisheit, seinen persönlichen Freund und einen bedeutenden Führer in der Welt, dem er große Achtung entgegenbringt. Nach der kurzen Pause für die Übersetzung führt der Oberst sich die rechte Hand ans Herz, um sich für die Wertschätzung zu bedanken. Für die Pressekonferenz hat er eine schwarze Galabia ausgewählt mit prächtig vergoldeten Säumen. Dann hebt er zu einer ungeplanten Rede an, die Berlusconi seiner Miene nach zu urteilen überrascht.
Die eintönige Stimme des Simultandolmetschers erklärt, wie hoch das Risiko sei, dass die europäischen Völker schwarz würden (so seine Worte), infolge der Invasion durch illegale Einwanderer, die nur er stoppen könne. Und wenn er nicht wäre, müsse man einen anderen finden. Als seine lange Rede endlich endet, ist klar, dass Berlusconi dem Gast nicht das letzte Wort überlassen will. Er schließt die Pressekonferenz, indem er erklärt, für das Bemühen um den Schutz der europäischen Grenzen seitens des großen libyschen Führers gebühre diesem der größte Dank eines ganzen Kontinents - Europas. Es folgt der Händedruck der beiden Führer, der von den Fotografen festgehalten wird.
„Wie ernst er heute ist“, meint Attilio mit Blick auf Berlusconi. „Kein Grinsen, kein dummer Witz, keine Gehörnten-Hand.“
Tatsächlich hat man im Gegensatz zu den sonstigen Treffen mit den Großen der Welt, von Putin bis Obama, in diesem Bericht über den Besuch einer Fotoausstellung in der libyschen Botschaft nicht ein einziges Mal seine strahlend weiße Zahnreihe aufblitzen sehen.
„Stimmt“, nickt Ilaria. „Er ist nicht in Form. Als hätte er wenig geschlafen.“
„Das ist kein Mann“, meint der Junge. „Das ist ein Teufel.“
Die erste Äußerung des Jungen, seit sie sich zu Tisch gesetzt haben.
Attilio und Ilaria wenden sich ihm zu, fast erstaunt, seine Stimme zu hören.
„Na ja…“, sagt sie mit erhobenen Augenbrauen. „Ich halte Berlusconi ja durchaus für ein großes Unheil, aber ein Teufel…“
„Er meint Gaddafi“, unterbricht sie Attilio.