„Kein Tag gleicht dem anderen“
Schulbegleiter sorgen dafür, dass ihre Schützlinge und deren Mitschüler dem Unterricht folgen können. Eine Ausbildung erhalten sie dafür nicht. Im Dienst mit Reiner Bühler in Dillingen.
Seit zwei Jahren geht Reiner Bühler wieder jeden Tag in die Schule. Der 62-Jährige ist Schulbegleiter, seine Arbeit beginnt schon vor dem Schulgong. Er holt sein Begleitkind am Parkplatz ab. David* ist zehn Jahre alt. Er hat ADHS, also eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Manchmal kann er sich in der Schule schwer konzentrieren. Manchmal wird er aggressiv. Und manchmal ist er ein Junge wie jeder andere auch. Viele Kinder mit ADHS nehmen Medikamente, auch David. „Es geht darum, das Kind gut durch den Tag zu bringen“, sagt Bühler über seine Arbeit.
Der Schulbegleiter sitzt im Klassenraum ein paar Reihen hinter David und beobachtet ihn. Die Helfer sollen den Kindern eine Hilfestellung sein. Jedes Kind hat dabei andere Bedürfnisse. Manche brauchen Hilfe beim Toilettengang, beim Blutzuckermessen. Andere beim Konzentrieren.
Davids Probleme sind vor allem Wutausbrüche oder Motivationslöcher im Schultag. Die gelte es abzuwenden, berichtet Bühler flüsternd. „Meine Aufgabe ist es auch, den Unterricht am Laufen zu halten, wenn er ein Problem darstellt.“Dann muss der 62-Jährige mit seinem Schützling vor die Tür, manchmal zum Rektor, bis David sich beruhigt hat. Noch brütet der still über seinem Blatt Papier. In der Früh gibt es in der Klasse von Sonja Kehrle eine Morgenarbeit. Die Kinder beschäftigen sich mit ihren Aufgaben.
Wenig später flattert Davids Blatt auf den Boden. „Das ist nicht gut“, murmelt Bühler, geht zum Tisch des Zehnjährigen und spricht leise mit ihm. Aus seiner Tasche zieht er einen Traubenzucker. Das helfe oft über ein Tief, meint Bühler. David esse nach dem Aufstehen nichts, er hat keinen Hunger. Für solche Fälle und für diejenigen, deren Brotdoseninhalt Bühler als „haarsträubend“bezeichnet, bietet die Schule ein kleines Frühstück. Geschnittenes Gemüse
und Obst als gesunden Einstieg in den Tag.
Zehn Schulbegleiter gibt es an der Theresia-Haselmayr-Schule. Dort lernen Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf. Etwa, weil sie eine Entwicklungsverzögerung haben, weil sie nicht genug Deutsch sprechen, oder eben, weil sie, wie David, ADHS haben. Das anfängliche Motivationstief des Zehnjährigen hat der Traubenzucker wohl gut überbrückt. Lehrerin Sonja Kehrle geht nun zu einem Schreibspiel über. Die Kinder sollen im Raum verteilte Wörter und Sätze lesen und dann am Platz in ihr Heft übertragen. Die Klasse macht sich mit viel Eifer daran.
Zum Abschluss gibt es einen Sitzkreis mit „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Dann geht es weiter zur Matheschiene. „Auf in den Kampf“, kommentiert Bühler und macht sich mit David auf den Weg ein paar Räume weiter. Dort werden die Kinder je nach Kenntnissen zusammengewürfelt. Hier ist David in der besten Gruppe. Trotzdem beschäftigt er sich manchmal lieber mit seinem Mäppchen als mit Malnehmen. An der Rückwand des Klassenzimmers hängen selbst geschriebene Geschichten der Schüler. Es geht darum, wie sie Silvester verbracht haben. Viele berichten, mit kreativer Grammatik und Rechtschreibung, von ihren Unternehmungen. Oft sind Computerspiele dabei. Deren Namen sind meist richtig geschrieben.
Viele der Kinder hätten nicht unbedingt viel Unterstützung zu Hause, berichtet Bühler. Manche leben nicht bei ihren Eltern, sondern im Heim oder in Pflegefamilien. Auch wenn es nicht seine Aufgabe sei, könne er manchmal nicht umhin, anderen Kindern zu helfen, wenn sie eine Frage haben und die Lehrerin gerade beschäftigt sei, sagt Bühler. Schulbegleiter sind nicht bei der Schule angestellt, sondern bei einem sozialen Träger. Sie erhalten in der Regel keine Ausbildung. Es sei denn, ihr Begleitkind hat spezielle medizinische Bedürfnisse. Die fehlende Ausbildung sieht Bühler kritisch. „Ich habe sieben Geschwister, drei Kinder, vier Enkel, war 20 Jahre Jugendfußballtrainer. Ich mache das also eher aus Erfahrung raus.“Sehr hoch ist die Bezahlung für die Begleiter in der Regel nicht. Bühler kam eher zufällig auf den Beruf. „30 Jahre war ich Vertriebsleiter in einer Firma, die ging dann insolvent.“Da war er 58 Jahre alt, schrieb Bewerbungen. Ohne Erfolg. Jemand habe ihm schließlich die Arbeit als Schulbegleiter vorgeschlagen.
Er ist der einzige männliche Begleiter an der Dillinger Förderschule. In der Pause steht der 62-Jährige mit seinen Kolleginnen zusammen. Neben einem Biss ins Pausenbrot unterhalten sie sich über ihre Erfahrungen, ohne ihre Schützlinge aus dem Blick zu verlieren. Als Schulbegleiterinnen müsse man sich auf vieles gefasst machen, berichten Bühlers Kolleginnen. Verbal und körperlich. „Ich mache nur Klasse eins bis vier, dann bin ich raus“, sagt Bianca Dobnikar. Sie ist schon seit 2012 dabei. Trotz manch schwieriger Fälle sei es eine Tätigkeit, die erfüllt, bei der kein Tag dem anderen gleiche. „Ich muss auch immer wieder lachen, was die Kinder manchmal für Ideen haben“, sagt Bühler.