Grau bleibt hier die Theorie
Premiere Goethes zweiteiliges Faust-Drama in einer Oper, geht das? Arrigo Boito hat es vor 150 Jahren gewagt. Dieser „Mefistofele“wurde nun erstmals szenisch in München aufgeführt. Für die Regie keine leichte Aufgabe
Wochen voller spannungsgeladener Proben waren dem Ereignis vorausgegangen. Die Presse hatte die Erwartungen durch allerlei polemische Berichte angeheizt. Als schließlich der Abend der Aufführung gekommen war, schwärmten nach jedem Akt Boten mit Situationsberichten vom Theater in die Stadt aus, um die allseitige Neugier zu befriedigen.
Man merkt schon, von der Saisonpremiere der Bayerischen Staatsoper mit Arrigo Boitos „Mefistofele“kann hier nicht die Rede sein. Wohl aber von der Uraufführung: Knapp 150 Jahre ist es her, dass Boitos Oper nach Goethes „Faust“1868 im theaterverrückten Mailand erstmals auf die Bühne kam – und mit Karacho durchfiel. Solches lässt sich von der jetzigen Münchner Inszenierung, bei der es sich um nicht weniger als die szenische Erstaufführung im Nationaltheater am MaxJoseph-Platz handelt, gewiss nicht sagen. Die Produktion fand bei der Premiere am Samstagabend reichlich Zustimmung. Einige Missmutsäußerungen für das Regieteam waren allerdings auch zu vernehmen – und das nicht zu Unrecht.
Der Italiener Arrigo Boito (1842 – 1918) hat sich in die Musikgeschichte vor allem als Librettist der beiden Verdi-Spätwerke „Otello“und „Falstaff“eingeschrieben. Die eigenen musikalischen Bühnenwerke des Multitalents haben es dagegen schwer: „Nerone“ist so gut wie vergessen, und auch „Mefistofele“steht im Vergleich mit anderen Faust-Opern eher selten auf den Spielplänen. Dabei ragt Boitos Version dadurch heraus, dass hier beide Teile von Goethes „Faust“-Dichtung als Grundlage dienten. Die Wette zwischen Gott und Teufel, so hat Boito argumentiert, setzte Fausts Tod voraus, der aber erst am Ende von der Tragödie zweitem Teil eintritt.
So hat Boito als Librettist und Komponist in Personalunion in seinem „Mefistofele“– der Titel verweist auf programmatische Gewichtsverlagerung – eine ebenso knappe wie schlüssige Szenenfolge aus den Goethe-Dramen destilliert: vom Prolog im Himmel mit dem überirdischen Wettversprechen über die Kontaktaufnahme zwischen Faust und Mephisto und die über GretchenLiebelei und die Brocken-Walpurgisnacht bis hin zu Gretchens Tod, zur Klassischen Walpurgisnacht in Griechenland und letztlich eben zu Fausts Tod und Erlösung.
Natürlich hat man jetzt in München auf die um von fünf auf drei Stunden gekürzte Zweitfassung (1875) des „Mefistofele“gesetzt. Roland Schwab zeichnet für die Inszenierung verantwortlich, dem man im Frühjahr erst in Augsburg als Regisseur einer quicklebendigen Mozart-„Finta giardiniera“begegnet ist. Schwabs Ausgangsthese für den Münchner „Mefistofele“ist: Den klaren Gegensatz zwischen Himmel und Hölle gibt es nicht mehr. Die Transzendenz hat abge- dankt, Hölle ist eigentlich überall. Die beiden monumentalen Metallgestänge beiderseits der Bühne (Piero Vinciguerra), die sich wie Tunnel-Stützkonstruktionen ausnehmen und schon vor Beginn der Aufführung den Blick ins Höllenreich erlauben, bilden jedenfalls während sämtlicher Szenen den Rahmen des Geschehens.
Hier trauert Mephisto – Kostümbildnerin Renée Listerdal hat den Protagonisten im prolligen Look einer Unterweltsgröße ausstaffiert – den alten Zeiten des klar getrennten Oben und Unten hinterher, legt auf einem Grammophon die alten bösen Lieder auf – Boitos „Mefistofele“, wird insinuiert, ist selbst so eines – und zieht sich anspielungsreiche ViSeelenverpfändung, deos (John-Lennon-Mord, 9/11-Katastrophe) von anno dazumal rein.
Schnell aber verpufft der szenische Einfallsreichtum, schon zum Schluss des Prologs, wenn Schwab der mystischen Situation nicht anders Herr zu werden weiß als mit einem Griff in die Live-Video-Trickkiste. Später darf dann ein weiteres Lieblingsrequisit heutiger Szenenkonfiguratoren nicht fehlen, der fahrbare Untersatz auf der Bühne – hier ist es ein Chopper-Motorrad, auf dem Mephisto und Faust easy dahinreiten. Anders als noch in Schwabs Augsburger „Gärtnerin“mag sich in solchen Kniffen der hintergründige Witz diesmal nicht einstellen. Mehr noch: Den „Durst nach Erkenntnis und Leben“, die existenzielle Dringlichkeit, die Boito in seinem Drama wie in allen Faust-Geschichten sah, kann Schwabs Regie zu keiner Zeit plausibel machen. Selbst dann nicht, als Faust gegen Ende als Greis in einem Altenheim dement wird und Helena als Pflegerin anschmachtet. Szenisch lässt einen diese Neuinszenierung kalt.
Partiell gilt das auch für den Faust auf der Bühne. Natürlich vermag ein Tenor wie Joseph Calleja mit seinem hellen, metallisch fließenden Stimmmaterial zu glänzen (wenngleich es in der Höhe einmal bedenklich rau zu werden begann). Darstellerisch aber kommt Calleja nicht über statisch-konventionelles Agieren hinaus. Zu wenig für einen Faust.
René Pape ist da schon mit anderem Ausdrucksrepertoire begabt, woraus Schwabs Regie jedoch kaum Nutzen zu ziehen vermag. Sängerisch ist der Höllenfürst des Basses jedoch eine Wucht, schwarz und dennoch geschmeidig und vor allem nie chargierend. Das beste Rollenporträt gelingt aber Kristine Opolais mit Margherita: Halb zog man sie, halb sank sie hin. Wie für ihre beiden männlichen Kollegen ist es auch für die lettische Sopranistin ein Rollendebüt.
Und auch Omer Meir Wellber dirigiert den „Mefistofele“erstmalig. Der junge Israeli, ein regelrechter Unruheherd am Pult, ließ Boitos Partitur als eine Mischung aus Belcanto und Grand opéra entstehen, schuf trotz weitgehend gemessener Tempi suggestiv aufgeladene Klangbilder. Höhepunkt der Walpurgisnacht-Schluss am Ende des 2. Akts, ein entfesseltes Chor- und Orchestergewoge, von Wellber hochgeputscht mit rudernden Armen und wedelnden Händen, als rufe er sich Beistand von oben. Vielleicht war’s ja auch so, Schwabs RegieAnsatz zum Trotz. Der 34-jährige Wellber jedenfalls hat mit dieser Vorstellung seinem Ruf als Senkrechtstarter erneut alle Ehre gemacht.
Die nächsten Vorstellungen des „Mefistofele“finden am 29. Oktober sowie am 1., 6., 10. und 15. November statt. Die letztgenannte Aufführung (19 Uhr) wird als kostenloser
auch im Internet übertragen (www.staatsoper.de/tv).