„Die wollen alle ganz schnell weiter“
Interview Jede Nacht behandelt die Kaufbeurer Hilfsorganisation Humedica in der serbischen Grenzstadt Presevo erschöpfte Flüchtlinge. Der Helfer Dieter Schmidt erzählt, warum sie jetzt nach Europa wollen. Und warum der Strom nicht abreißt
Herr Schmidt, Sie und Ihr fünfköpfiges Team arbeiten jede Nacht durch ... Was sind das für Menschen, die die Hilfe von Humedica brauchen?
Der allergrößte Teil der Flüchtlinge, die hier in der serbischen Grenzstadt Presevo ankommen, stammen aus Syrien. Ein paar wenige kommen aus Pakistan, Afghanistan, Irak und Schwarzafrika.
Der 35 000-Einwohner-Ort Presevo ist eines der größten Nadelöhre auf der Westbalkanroute. Welchen Weg haben die Flüchtlinge hinter sich – und welchen noch vor sich?
Sie kommen mit Zügen aus Griechenland. Am letzten Bahnhof in Mazedonien ist Endstation, da wirft man sie quasi aus dem Zug. Von dort aus werden sie gute zwei Kilometer zu Fuß bis zur Grenze geleitet und auf serbischem Gebiet weitere zwei Kilometer über einen Feldweg zu einem Sammelpunkt an der Moschee. Pendelbusse bringen sie dann nach Presevo zur zentralen Registrierungsstelle. Der Weg geht in Bussen weiter über Slowenien und Österreich nach Deutschland.
Wollen alle nach Deutschland?
Viele. Sie haben es verstanden, dass sie in Deutschland eine Chance haben. Sie sagen: In Syrien wissen wir sicher, dass wir umkommen. Auf dem Weg nach Europa vielleicht. Aber in Deutschland haben wir zumindest eine Chance zu überleben. Viele wollen auch nach Finnland, Norwegen oder in die Schweiz. Sie wissen, dass es auch etwas anderes gibt. Viele haben aber auch Verwandte in Deutschland, zu denen sie jetzt erst mal wollen.
Wie erleben Sie die Flüchtlinge?
Sie sind unglaublich dankbar, dass man ihnen hilft. Ein alter Mann hat mir gestern die Hand ge- küsst, da bekommt man schon eine Gänsehaut.
Wie arbeiten Sie vor Ort?
Gemeinsam mit den „Ärzten ohne Grenzen“betreiben wir in einem ehemaligen Ladengeschäft eine medizinische Praxis. Die „Ärzte ohne Grenzen“arbeiten tagsüber, wir übernehmen die Nachtschicht – von 21 Uhr bis etwa 6 Uhr, je nachdem, wie groß der Andrang ist.
Wie geht es den Menschen?
Sie sind vor allem eins: unglaublich erschöpft. Viele von ihnen sind schon 25 oder 30 Tage unterwegs und man sieht ihnen an, dass sie am Limit sind. Wenn man lächelnd auf sie zugeht, merkt man, dass viele gerne zurücklächeln würden – sie können es aber einfach nicht mehr.
Und die Kinder: Wie geht es denen?
Wir erleben quasi keine quengelnden Kinder, die können nicht mal mehr das und schlafen sofort und überall ein. Mit welchen Krankheiten der Menschen haben Sie es zu tun?
Viele sind unterkühlt, erkältet, haben Atemwegserkrankungen, Herz- oder Lungenprobleme. In den letzten Tagen hat es zum Glück nicht geregnet. Aber die Tage zuvor waren viele völlig durchnässt. Die kommen ja oft nur mit Schlappen und T-Shirts an. Die Kinder legen wir vor das einzige Heizgebläse, das wir in unserem Behandlungsraum haben, um sie wieder trocken und warm zu bekommen.
Was können Sie vor Ort tun?
Wir versuchen, Schuhe zu organisieren und trockene Kleidung. Wir haben uns schon ein Recyclingsystem für Plastikumhänge überlegt, weil es einfach zu wenige gibt. Wenn es wieder regnet, bekommen sie die Flüchtlinge an der Grenze und müssen sie dann nach der Registrierung wieder abgeben, damit wir für die nächsten Flüchtlinge Regenschutz haben. Gestern hatten wir einen Mann mit einem gebrochenen Fußgelenk. Zu uns kommt sowieso nur, wer überhaupt nicht mehr kann vor Schmerzen.
Warum lassen sich viele andere nicht behandeln?
Sie alle wollen ganz schnell weiter, wollen keine Zeit verlieren, sondern steigen lieber krank in den Bus. Das sind ja alles keine Dummköpfe, sondern intelligente Leute: Es sind Ärzte, Lehrer, Handwerker, die gut vernetzt sind. Bei der Registrierungsstelle gibt es für die Flüchtlinge WLAN, da können sie ins Internet. Sie bekommen natürlich mit, wie in Europa der Umgang mit den Flüchtlingsströmen diskutiert wird. Und fürchten, dass irgendwann die Grenzen dichtgemacht werden.
Wie viele Menschen kommen täglich in Presevo an?
Das ist ganz unterschiedlich – und sehr dynamisch. An einem Tag sind es 3000, am nächsten 9000. Gestern Nacht hatten wir nur zehn Patienten, die Nacht zuvor 150. Ich habe den Eindruck, dass der Ansturm in den letzten zwei, drei Tagen etwas zurückgegangen ist. Man rechnet aber wieder mit mehr Flüchtlingen, weil man davon ausgeht, dass mehr übers Mittelmeer kommen. Das Wetter ist besser, darum werden sich wieder viele übers Meer auf den Weg machen. Derzeit lässt Slowenien am Tag nur 2000 Flüchtlinge ins Land, sodass sich mit dem Stau vor der Grenze die nächste Katastrophe anbahnt. Warum kommen die Menschen gerade jetzt?
Da spielt sicherlich auch die russische Bombardierung in Syrien eine Rolle. Solange das so weitergeht, wird der Flüchtlingsstrom auch nicht abreißen.
Wie ist die Lage in Presevo derzeit?
Es ist nasskalt, neblig, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Wir müssen morgens schon die Autoscheiben abkratzen. Aber es ist wenigstens trocken. Aber: Der Flüchtlingsandrang wird sehr viel organisierter gehandhabt als noch vor ein paar Tagen, die haben die Registrierung jetzt ganz gut in Griff. So muss zum Beispiel nicht mehr für jeden Einzelnen ein Formblatt ausgefüllt werden, sondern für jede Familie. Die serbischen Behörden können jetzt pro Stunde 500 Personen durchschleusen. Aber es gibt auch ein paar Verbrecher, die die Situation der Flüchtlinge ausnutzen.
„Wenn man lächelnd auf die Menschen zugeht, merkt man, dass viele gerne zurücklächeln würden – sie können es aber einfach nicht mehr.“
Humedica-Koordinator Dieter Schmidt
Zum Beispiel?
Da nachts keine Pendelbusse mehr verkehren, zocken die Taxifahrer die Menschen ab – und verlangen für die zwei Kilometer Weg 60 Euro – pro Person!
Interview: Andrea Kümpfbeck
ist zwei Wochen lang als ehrenamtlicher Koordinator für die Kaufbeurer Hilfsorganisation Humedica an der serbisch-mazedonischen Grenze im Einsatz. Der 54-Jährige aus Nesselwang im Ostallgäu arbeitet dort gemeinsam mit seiner Frau Nancy, einer Krankenschwester. Weil ihnen Helfen „eine Herzensangelegenheit“ist, sagt er.