Im Bilderdickicht der Städte
Straßenkunst Riesig groß auf Fassaden und Brandmauern oder winzig klein in Pfützen: Wie und wo Urban Art den öffentlichen Raum in immer neuen Erscheinungsformen erobert
Wenn das so weitergeht, wird es in den Städten auf diesem Globus bald keine freien Wände und Brandmauern mehr geben. Tag für Tag wächst der urbane Bilderwald – Street Art wuchert die Fassaden zwischen Rio und New York, Sydney und Berlin, Johannesburg und London zu. Wer einschlägige Fotoblogs verfolgt, kann täglich dutzende über Nacht neu entstandene Riesenbilder betrachten. Viel Buntes und Dekoratives, aber auch Politisches und Giftiges. Graffiti-Kunst im öffentlichen Raum (und immer öfter auch: im öffentlichen Auftrag) ist unübersehbar die Kunst der Stunde.
Die Bilder und Botschaften prägen den öffentlichen Diskurs und seine Wahrnehmung, wie man zuletzt beispielhaft im Arabischen Frühling oder in der GriechenlandKrise gesehen hat. Street Art schafft die Ikonen und prägt ganze Stadtbilder. Stars wie der geheimnisumwitterte Brite Banksy lösen mit jedem Werk, das sie über Nacht irgendwo auf der Welt hinterlassen, Volksaufläufe aus. Im Zweifelsfall ist eine Außenwand, die Banksy veredelt hat, plötzlich so viel wert, dass sich der werkschonende Abbruch des Hauses lohnt.
Und so drängt die Street Art mit ihren immer weiter ausdifferenzierten Techniken und Ausdrucksformen einerseits in die Breite und in die Höhe, auch in die Beliebigkeit – und andererseits in die Galerien, Museen und auf den internationalen Kunstmarkt. In Stadtmarketing, Tourismus und urbanem Quartiermanagement spielt die gepflegte Street Art inzwischen weltweit eine bedeutende Rolle. In dieser freundlichen Umarmung bleibt dem Rebellischen, Illegalen und Unberechenbaren künstlerischer Interventionen mehr und mehr die Luft weg.
Dem Street-Art-Trend zu immer gigantischeren, großflächigen Arbeiten, von denen ein Überwältigungseffekt ausgeht, widmet sich ein im Prestel-Verlag erschienener Bildband. XXL-Murals, die haushoch und übersehbar aus der urbanen Kleinteiligkeit herausragen, sind die Werke von international gefragten Künstlern, die für ihre Arbeiten Gerüste und Hebebühnen brauchen. Auf Fassaden erheben sich gewaltige Vögel und Lurche, Skelette und bunte Hände im Riesenformat. Da prangen Porträts mit garagentorgroßen Augen, Comicwesen, Bildgeschichten, farbgewaltige geometrische Abstraktionen. Künstler wie der Ire Connor Harrington malen Degenkämpfer auf Hauswände, die größer sind als die Leinwände von Freiluftkinos. „Für mich ist Wandmalerei wie ein Kampf David gegen Goliath. Man nimmt es mit etwas viel Größerem auf, gewinnt oder verliert“, sagt Harrington. Die meisten Leute, die ganze Straßenzüge zu aufgeklappten Bilderbüchern machen, tragen Künstlernamen wie C125, Faith47, ROA, M-City oder Pixel Pancho.
Autorin Claudia Walde, selbst aktiv als Straßenkünstlerin, stellt 30 bekannte Kollegen und ihre in aller Welt verstreuten Arbeiten vor. Die 250 großformatigen Fotografien des Buches zeigen die Wirkung der XXL-Street-Art im Stadtraum. Es braucht schon Abstand und einen Blick aus gewisser Entfernung, um ein 18 mal 50 Meter großes Bild überhaupt zu erfassen. Walde erklärt Stile, abenteuerliche Logistik und Techniken der Fassadenbezwinger, lässt in ihren kurzen Beiträgen vor allem auch die Künstler zu Wort kommen. So sagt der gebürtige New Yorker Max Rippon, genannt Ripo: „Kunst in einem solchen Maßstab greift in das Stadtbild ein. Sie wird zu einem sichtbaren Teil des Alltags. Was auch immer ich in einer Galerie ausstelle – es wird nie ein so großes Publikum erreichen.“Tatsächlich sind die urbanen Riesenwerke für viele Künstler wie große Visitenkarten, die Interesse für sammlerkompatible Arbeiten wecken.
Ebenfalls bei Prestel erschienen ist der Band „Street Art Reloaded“, in dem Riikka Kuittinen anhand zahlreicher Fotos die neuesten Techniken der Urban Art vorstellt. Da wird gestrickt, verkleidet und gehäkelt, es gibt dreidimensionale Objekte, Schriftzüge aus Moos, Papierklebebilder, Installationen und Lichtprojektionen, subversive Eingriffe – beliebt ist die Umgestaltung von Denkmälern – und poetische Stolpersteine.
Als Gegenpol zu den XXLWandbildern können die Miniaturen von Slinkachu gelten. Er schleust winzige, nur zentimetergroße Modelleisenbahnfiguren ins Stadtbild ein. Da hocken dann Männchen in Badehosen auf Kippen, die in Pfützen schwimmen oder eine Figur mit Schwingen aus kleinen Vogelfedern steht auf einem Geländer. Kuittinens Stilkunde zeigt, wie vital und kreativ die Szene der Urban Art jenseits von Spraydose und Farbeimer ist.
Beide Publikationen sind Einladungen, mit offenen Augen und Neugier durch die Städte zu gehen.
Bilder auf Fassaden, größer als Kinoleinwände
Prestel, 224 Seiten, 24,95 Euro
Claudia Walde: Graffiti XXL – Street Art im Großformat.