Frisch aus der Dose
Konsum Professor Marin Trenk weiß alles über unsere Essgewohnheiten. Warum wir mal Hochlandrind verspeisen und mal Billighuhn. Warum wir über den Tellerrand schauen und fremde Geschmäcker wieder eindeutschen. Der Mann verdient schließlich seine Brötchen d
Er kennt alle dunklen Abgründe in unserem Verhältnis zum Essen. Und er spricht sie knallhart aus. „Abends“, sagt Marin Trenk, „schieben die Deutschen gerne eine Tiefkühlpizza in den Ofen. Und sie sehen sich dabei Kochsendungen an.“Oder das: „Sie geben viel Geld für ihre Küchen aus und gehen zum Einkaufen in den Discounter.“Und noch einen hinterher: „Die Deutschen schütten teureres Öl in ihr Auto, als bei ihnen auf den Tisch kommt.“
Was soll man da entgegnen? Stimmt gar nicht? Schwierig. Niemand dürfte unser Essverhalten genauer untersuchen als Marin Trenk. Er hat an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main das Forschungsgebiet „Kulinarische Ethnologie“eingeführt und ist der einzige spezialisierte Völkerkundler für Ernährung in Deutschland. Wenn er die Geschichte vom Öl und dem Auto erzählt, muss der 62-Jährige, der viel jünger aussieht, lachen. Natürlich seien solche Beispiele überspitzt. Aber sie zeigen: „Wir haben uns in der deutschen Küche von Sachen verabschiedet, die uns einmal lieb und teuer waren. Stattdessen essen wir, was die Lebensmittelindustrie uns anbietet.“Um das zu verstehen, sagt Trenk, müsse man nur einmal mit offenen Augen durch den Supermarkt gehen. Abends um kurz vor acht braucht man damit nicht anzufangen. Denn das mit der Esskultur ist eine längere Geschichte.
Wir erkunden sie in der Filiale eines großen Lebensmittelkonzerns im Frankfurter Bahnhofsviertel. Weit mehr als drei Viertel der Deutschen kaufen regelmäßig im Supermarkt ihres Vertrauens ein. 47 Prozent empfinden den Besuch als „angenehm“oder „sehr angenehm“, zeigt eine Studie des Marktforschungsinstituts Nielsen. 37 Prozent sehen den Einkauf als „vergnügliches Ereignis“für die ganze Familie, das „durchaus mehrere Stunden“dauern kann. Also hinein!
Gleich im Eingangsbereich die vertraute Geräuschkulisse: Stimmengewirr, das Piepsen der Kasse, schreiende Kinder und Plastikpäckchen, die in Einkaufswagen fallen. Erster Halt: die Obst- und Gemüseabteilung. Birnen, Äpfel, Mango hier, Avocado, Frühlingszwiebel, Knoblauch da. Und noch viel mehr. Rund zehn Prozent seines Umsatzes macht der Lebensmitteleinzelhandel mit solchen Waren. Marin Trenk – dunkle Hose, dunkle Jacke, bunter Schal – nimmt eine Papaya aus dem Regal und wiegt sie in seinen Händen hin und her. In den vergangenen Jahren hat er bei den Deutschen eine steigende Begeisterung für neue Obst- und Gemüsesorten festgestellt. Bei vielen lässt sich gut nachvollziehen, wie sie es auf unseren Einkaufszettel geschafft haben. „Zucchini haben die Gastarbeiter etabliert, die Aubergine auch. Sie ist nach wie vor das Lieblingsgemüse in der muslimischen Welt.“Selbst die Kartoffel „ist so wenig deutsch wie die Tomate italienisch“. Beide Gemüse brachte Christoph Kolumbus vor gut 520 Jahren über den Atlantik zu uns. Und Chilis gleich mit.
Gleich hinter den Brotkästen (Trenk: „Backshops tragen zum Niedergang der deutschen Brotkultur bei“) beginnt die Abteilung, die am meisten über die Esskultur verrät. Rosa glänzend: die Fleischtheke. Die Auswahl ist auffällig unauffällig und überall gleich eingeschränkt, sagt Trenk. „Denken Sie nur an Ochsenschwanz. Den können Sie vermutlich in ganz Deutschland nicht im Supermarkt kaufen.“
Warum traditionelle Gerichte im-
Häufig haben Nahrungstabus religiöse Gründe, etwa der Verzicht auf das Fleisch des als heilig geltenden
in Indien (Hinduismus) und auf das unreine bei gläubigen Juden. Ebenfalls religiös begründet, sagt der Kulturwissenschaftler Marin Trenk, sei unsere weitgehende Abneigung gegen Vor rund 1500 Jahren missionierte die katholische Kirche die Germanen. Das Pferd war das wichtigste Tier im heidnischen Kult. Entsprechend wird es hierzulande noch heute auf dem Speisezettel meist missachtet.
Andere Tabus lassen sich dadurch erklären, dass sich die „soziale Codierung“gegenüber Lebewesen verändert hat. Noch im 19. Jahrhundert etwa mästete man in England zum Essen. Als sich der Hund aber mehr und mehr zum Haus- und Schoß- mer seltener gegessen werden, ist eine zentrale Frage der Food-Ethnologie, wie das neudeutsch heißt. In seinen Seminaren stellt der UniProfessor jedes Semester dieselbe Frage: „Wer kennt Kalbszunge in Madeirasoße?“Keiner hat sich bisher gemeldet. „Das ist ein typisches Gericht aus der gutbürgerlichen Küche. Aber die kennt heute kaum noch einer.“
Knapp 14 Prozent der Konsumausgaben verwendet der Durchschnittsverbraucher für Lebensmittel. Eine gemeinsame Esskultur eint das Land jedoch nicht. „Im Norden war die traditionelle Küche nie besonders ausgeprägt. Heute ist sie dort komplett verschwunden.“Südlich des Mains spielten Regionalküchen noch eine größere Rolle. Der Weitgereiste spricht gar vom „bayerischen Imperialismus“bei allem Kulinarischen. Imperialismus?
Trenk erklärt: „Wenn Sie irgendwo auf der Welt deutsche Küche essen, ist es die bayerische.“Thailand und Schweinshaxe? „Eine Liebesbeziehung.“Nicht zuletzt mache der Ruf des Oktoberfests Bayerns kulinarische Vorzüge bekannt. „Und die Bayern leben ihre Esskultur mit großem Selbstbewusstsein.“Trenk selbst ist in Crvenka im heutigen Serbien aufgewachsen und mit der bodenständigen Küche ÖsterreichUngarns sozialisiert worden.
Er deutet auf das Geflügelregal. „Hier werden Sie vergeblich nach tier entwickelte, war es bald undenkbar in Europa, die Vierbeiner zu verspeisen.
Dass wir keine mehr essen, hat wie viele Tabus verschiedene Gründe. Noch im 19. Jahrhundert waren Singvögel eine gängige Speise. Die Ornithologie als Wissenschaft aber erkannte den Vogel ganz rational als Helfer bei der Schädlingsbekämpfung. Die ausgeprägte Singvogeljagd beim dekadenten Adel begründete außerdem, dass sich im Bürgertum der Vogelschutz etablierte.
Heute sind Nahrungstabus Trenk zufolge oft „zyklisch auftretende Moden“. Er sagt: „Gestern war schädlich, heute sollen wir keine
essen, morgen wird dämonisiert.“Unterschied zum richtigen Tabu: Meist haben sich solche Moden schnell wieder erledigt. (sari) etwas Außergewöhnlichem suchen. 80 Prozent des verkauften Hühnerfleischs sind Brust.“Die Entwicklung hin zum „Muskelfleisch-Standard“zeichne sich seit Jahrzehnten ab: „Die größte kulinarische Erfindung waren in den letzten 30 Jahren die Chicken McNuggets aus den USA – Hühnerteile, die keinerlei Ähnlichkeit mit Lebewesen haben.“Inzwischen sei „aus den Supermärkten fast alles verschwunden, was an das Tier erinnert“. Ein Huhn wird hierzulande schon lange nicht mehr auf dem heimischen Esstisch zerteilt. „Die Füße landen in Südostasien, die Flügel gehen nach China und Südasien und Hühnerschenkel häufig nach Afrika.“
Der westliche Mensch entfremdet sich mehr und mehr vom Prozess der Fleischproduktion. Auf alten Stadtplänen sind die Schlachthäuser noch in der Stadtmitte eingezeichnet. In Augsburg etwa liegen zwei Tramstationen zwischen dem Rathausplatz im Zentrum und dem Schlachthofgelände. Das Gros des dortigen Areals wird heute anderweitig genutzt. So gibt es ein hübsches Café, das veganes Frühstück auf der Karte hat. „Wir alle wissen, dass der Großteil des Fleisches aus Massentierhaltung kommt“, sagt Trenk. „Da gibt es gute Gründe, nichts über dessen Produktion wissen zu wollen.“Bei Brustfleisch oder Filet ließen sich die Entstehungsbedingungen am einfachsten ausblenden. Immer mehr Deutsche verzichten wiederum ganz auf Fleisch. Elf Prozent bezeichnen sich laut Statistischem Bundesamt als (halbwegs) konsequente Vegetarier, ein Prozent ernährt sich vorübergehend oder ganz vegan.
Was isst der Deutsche nun am liebsten? Die Antwort wartet im nächsten Regal. Makkaroni, Spaghetti, Tagliatelle. „Ohne Pasta kann man sich die deutsche Alltagsküche nicht mehr vorstellen“, sagt Trenk. Oder anders: „Als ich jung war, haben wir die Italiener im Scherz als Spaghettifresser betitelt. Heute sind wir selbst die größten.“Der Vorteil des Nudelgerichts: „Es geht schnell.“In einer individualisierten Welt sei das der wichtigste Aspekt beim Kochen. 60 Prozent der Deutschen nennen Zeitmangel als Grund dafür, dass sie sich nicht so ausgewogen ernähren, wie sie gerne möchten. „Selbst in Familien sind die Tagesabläufe so unterschiedlich, dass Eltern und Kinder nicht mehr abends um sieben zusammen an einem Tisch sitzen.“Gemeinsam Kochen? Meist nur noch am Wochenende.
Des gestressten Konsumenten letzte Rettung wartet gleich neben der Pasta: Fertigprodukte. Trenk nimmt eine Dose vom „Westfälischen Linseneintopf mit einem Schuss Essig“aus dem Regal und muss lachen. In der Dose überlebt die Sehnsucht der Deutschen nach Omas Küche. Wer es exotischer mag, greift vielleicht zur „Indonesia Bihun-Suppe“. Original indonesisch, verheißt das Etikett. Falsch. „An dieser Suppe werden Sie nichts Ursprüngliches finden – sie ist für den deutschen Markt produziert.“
Dass der Handel so etwas macht, hängt mit unserer Neigung zusammen, fremde Geschmäcker einzudeutschen. Ein Phänomen, das Marin Trenk in seinem Buch „Döner Hawaii – unser globalisiertes Essen“beschreibt. Der Deutsche, sagt er, sei zwar offen für globale Esskultur, verändere sie aber nach seinem Gusto. Beispiel Pizza. In Neapel, dem Geburtsort des Teigfladens, findet man darauf kaum mehr als Tomatensugo, Käse und Basilikum. Der Deutsche aber hat es gern üppig. Die erste Pizza gab es hierzulande übrigens in Würzburg. 1952 eröffnete ein italienischer Küchengehilfe der US-Armee dort eine Pizzeria.
Es gebe natürlich Gegenbewegungen zum vereinheitlichten, effizienten Handwerken in deutschen Küchen, sagt Trenk. Stichwort: Slow Food. Bewusstes, genussvolles und regionales Essen. „Das ist das Ideal“, sagt Trenk. Außerdem: Zwischen 30 und 40 Prozent kaufen regelmäßig im Biomarkt ein, 15 Prozent decken einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge fast ihren kompletten Bedarf dort. Wer nur das Nötigste braucht,
Trauer um den Ochsenschwanz
Was wir verschmähen: Über Tabus bei Lebensmitteln Ohne Pasta geht gar nichts mehr