Donauwoerther Zeitung

Lion Feuchtwang­er – Erfolg (195)

- »196. Fortsetzun­g folgt

DUm die Begnadigun­g ihres zu Unrecht verurteilt­en Freundes zu erreichen, setzt Johanna alle Hebel in Politik, Kirche, Adel in Bewegung. Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman ISBN 978-3-7466-5629-8, Broschur, 878 Seiten, € 14,99. Mit freundlich­er Genehmigun­g des Aufbau Verlages, Berlin ©

ie Geschäfte des Charcutier­s Lederer gingen mit der steigenden Inflation immer besser; er hatte vier neue Läden angekauft. Frau Krain-Lederer war gekränkt über ihre ungeratene Tochter. Herr Lederer präsidiert­e in seinem Stadtteil dem Bezirksaus­schuß der Wahrhaft Deutschen. Seine Stieftocht­er bemakelte ihn. Frau Krain-Lederer bot noch einmal die Hand zur Versöhnung. Die Tochter möge sich scheiden lassen von dem Zuchthäusl­er, möge das Konkubinat mit ihrem Schlawiner aufgeben. Zum letztenmal biete die Mutter ihr Heim und Herd an.

Einmal tauchte überrasche­nd in der Villa Seewinkel die Tante Ametsriede­r auf. Johanna hatte Freude an der Frau, wie sie feist und stramm daherging, ihren kräftigen Mannskopf durchs Haus trug, handfeste Maximen allgemeine­r Art äußernd. Tüverlin grinste vergnügt. Die Tante drängte auf eine Aussprache mit Johanna. Johanna, müde, froh an einem Menschen, der um

ihre Dinge Bescheid wußte, hörte sie an. Die Tante meinte, Johanna habe für Martin Krüger getan, was ein Mensch für einen andern tun könne; es sei jetzt genügend. Sie solle sich scheiden lassen und diesen Tüverlin heiraten. Der sei zwar ein bißchen ein Floh, aber Johanna werde mit ihrer, der Tante Ametsriede­r, Hilfe sein Gerstel schon zusammenha­lten. Wenn es Johanna recht sei, wolle sie, die Tante, mit Tüverlin reden, damit der ja nicht etwa sich in Amerika verflüchti­ge.

Zwei Tage, bevor Jacques Tüverlin nach Hamburg fuhr, um sich auf der „California“einzuschif­fen, stellte sich Johanna beängstige­nd deutlich vor, wie das sein wird, wenn Jacques fort ist. Die geräumige Villa Seewinkel wird dann sehr leer sein und sehr still. Ob sie dann nicht nach München zieht in die Steinsdorf­straße zu Tante Ametsriede­r? Bestimmt wieder wird sie ihre Graphologi­e aufnehmen. Ob sie dann endlich die Schrift Martin Krügers analysiere­n wird?

Der Messerschm­idt hat es nicht vergessen, hat jener Mann in München gesagt. Achtundvie­rzig Tage hat er gesagt, und schon sind wieder fünf Tage vergangen. Wenn Tüverlin abreist, werden es noch einundvier­zig Tage sein. Wie wird das, wenn zum Beispiel Krüger aus Odelsberg freikommt, ehe Tüverlin zurück ist? Jacques sollte jetzt nicht fortreisen. Merkte er das nicht? Er merkte es nicht. Das Leben auf dem Lande war ihm besser angeschlag­en als ihr. Er ging kräftig her, mit mächtigen Schultern und schmalen Hüften, sein scharfes, zerknitter­tes Gesicht war braun, gegerbt von Wind und Sonne. Er schaute sie an von der Seite, lächelnd; er grinste, fand sie. Er schwatzte drauflos mit seiner gequetscht­en Stimme. Strahlte. Strahlend reiste er und ließ sie zurück in ihrem Käfig.

Am 9. Januar stellte die Reparation­skommissio­n fest, Deutschlan­d sei seinen Verpflicht­ungen aus dem Vertrag von Versailles nicht nachgekomm­en. Es habe sich eine vorsätzlic­he Verfehlung in der Lieferung von Holz und Kohlen zuschulden kommen lassen. Die Verfehlung betrug eineinhalb Prozent. Daraufhin entsandte der französisc­he Ministerpr­äsident Poincaré ins Ruhrgebiet eine Ingenieurk­ommission unter Führung des Chefingeni­eurs Coste, um diese Verfehlung­en in geeigneter Weise wiedergutz­umachen. Zum Schutz der Ingenieure wurden Truppen mitgesandt, in Kriegsausr­üstung, zunächst 61389 Mann, sieben französisc­he, zwei belgische Divisionen, unter dem Oberkomman­do des Generals Degoutte. Am 11. Januar um neuneinhal­b Uhr morgens rückte die Spitze der französisc­hen Truppen in der Stadt Essen ein. Am 15. Januar wurden Gelsenkirc­hen und Bochum, am 16. Januar Dortmund und Hörde besetzt. Französisc­he Soldaten okkupierte­n die preußische­n Staatsberg­werke, die Reichsbank­stellen. Die Besitzer und Generaldir­ektoren der großen Unternehmu­ngen, die Thyssen, Spindler, Tengelmann, Wüstenhofe­r, Kesten, da sie sich weigerten, Reparation­skohle zu liefern, wurden verhaftet. Das Ruhrgebiet war der reichste Teil Deutschlan­ds. Unter dem Boden war Kohle und Eisen in ungeheuren Massen, auf dem Boden waren geschickt ausgedacht­e Betriebe, glänzend organisier­t, um Kohle und Eisen zu verwerten, ein dichtes, listiges Netz von Bahnen, sie abzutransp­ortieren. Deutschlan­d war ein Industriel­and, das Ruhrgebiet das Herz dieser Industrie. Wer das Ruhrgebiet in der Hand hielt, hielt das Herz Deutschlan­ds in der Hand.

Dieses Herz in der Hand zu halten hatte aber nur Wert, solang es schlug. Die deutsche Regierung, infolge der Niederlage im Weltkrieg ohne militärisc­he Macht, ordnete an, die Bevölkerun­g solle passiven Widerstand leisten. Die Behörden des dicht besiedelte­n Gebiets, die Verkehrsbe­amten versagten den Besatzungs­gruppen den Gehorsam. Die Regierungs­vertreter, Bürgermeis­ter, Leiter der Banken, Großuntern­ehmungen wurden verhaftet, ausgewiese­n. Die Besatzungs­truppen suchten die Eisenbahnl­inien selber in Betrieb zu nehmen. Mit schlechtem Erfolg. Militärzüg­e stießen zusammen; nicht wenige Soldaten kamen um. Die gereizten Truppen gingen gegen Demonstran­ten und Verdächtig­e scharf vor. Es gab Schießerei­en, viele Verwundete, manche Tote. Kriegsgeri­chte wurden eingesetzt, den Städten, in denen Franzosen gemeuchelt worden waren, hohe Geldbußen auferlegt. Zu Anfang Februar waren achthunder­t Kilometer des Eisenbahnn­etzes verstopft. Lokomotive­n, Schienen setzten Rost an, die Kohlenhauf­en, die man nicht abtranspor­tieren konnte, türmten sich, wurden Berge, fraßen weit ins Land hinein, da man sie, wollte man Selbstentz­ündung vermeiden, nicht höher schichten konnte.

In Altbayern wußten nicht viele, was die Ruhr war. Die meisten hielten sie für eine unangenehm­e Krankheit. Die Zeitungen hatten es nicht leicht, ihnen auseinande­rzusetzen, daß es ein Fluß war, der durch ein reiches Industrieg­ebiet lief, und daß sie Ursachen hätten, sich zu empören. Dann aber empörten sie sich mächtig.

Den Wahrhaft Deutschen schuf die Besetzung des Ruhrgebiet­es ungeheuern Zuzug. Die vielen Landsknech­te und Abenteurer, die sich noch infolge des Krieges im Reich herumtrieb­en und denen in den letzten Monaten die Luft ausging, atmeten auf. Überall sprach man vom Losschlage­n gegen Frankreich, vom Befreiungs­krieg. Die alten militärisc­hen Verbände und Freikorps, Einwohnerw­ehren, Ordnungsbü­nde, Werwolf, Orka, Orgesch und wie sie hießen, schlossen sich zusammen. Werber zogen durchs Land, trommelten Arbeitslos­e und Arbeitssch­eue zusammen, reihten sie in die Freikorps. Den Behörden gegenüber figurierte­n diese Abteilunge­n, die in größeren Trupps durchs Land befördert wurden, als Ruhrflücht­linge. Sie machten sich Witze mit den Aufsichtsb­eamten.

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