Donauwoerther Zeitung

Trauern, spielen, lachen

Gesellscha­ft Ist es ratsam, kleine Kinder auf den Friedhof mitzunehme­n? Auch zu einer Beerdigung? Ja, sagt eine Sozialpäda­gogin – und geht noch einen Schritt weiter. Sie hat einen einzigarti­gen Spielplatz entwickelt, inmitten von Gräbern. Das gefällt nich

- VON ANGELA STOLL Karlsruhe Allerheili­gen Allerseele­n Totensonnt­ag

Alte Platanen säumen den Weg, der durch den Hauptfried­hof führt. Langsam segeln gelbbraune Blätter zu Boden. Es riecht nach feuchter Erde. Rechts und links die Gräber, mal mit Steinplatt­en und Marmorenge­ln, mal mit Holzkreuze­n und mächtigen Blumenkrän­zen. Mal vergessene, auf denen außer Efeu nichts wächst. Ein schöner, gewöhnlich­er Friedhof. Aber etwas irritiert. Hinter einer Hecke ragt der Rahmen einer Schaukel hervor. Bald kann man Sandkasten, Wipptiere, Kletterwan­d und Rutsche erkennen. Wie eine Insel liegt in der Mitte des Friedhofs, von Hecken umgeben, ein Spielberei­ch. Ein Spielplatz neben Gräbern?

Ja, tatsächlic­h dürfen Kinder hier spielen. Und die fünfjährig­e Lilli findet das prima. „Mama, schau mal!“, ruft sie und schaukelt sich hoch in die Lüfte. Obwohl sie mit Bruder, Mutter und Oma schon oft auf diesem Friedhof in Karlsruhe war, um das Grab des Uropas zu besuchen, hat sie den Spielplatz erst heute entdeckt. Die Erwachsene­n sehen sich interessie­rt um. „Ich finde es toll, dass hier auch für die Kleinen etwas geboten ist“, sagt Mutter Natalie Salnikow. Und die Oma fügt hinzu: „Ich glaube nicht, dass sich die Toten gestört fühlen, wenn die Kinder hier fröhlich sind.“

Den Spielplatz „Kinderwelt­en“gibt es seit drei Jahren. So ungewöhnli­ch wie der Ort, an dem er sich befindet, ist das Konzept, nach dem er gestaltet wurde. Er will kein Platz zum Herumtoben sein, sondern Kindern Gelegenhei­t bieten, sich mit dem Trauern auseinande­rzusetzen. Das Areal besteht aus zwei Bereichen, einem „fröhlichen“und einem „traurigen“. Zunächst betritt man einen scheinbar normalen Spielplatz mit intakten Geräten. Er steht für die heile kindliche Welt. Eine Holzbrücke führt in den anderen Teil, der spiegelver­kehrt aufgebaut ist, in dem aber nichts mehr funktionie­rt. Die Schaukeln sind verkettet, der Sandkasten ist zuzementie­rt, die Wippgeräte lassen sich nicht bewegen. Dieser Bereich steht für eine Welt, die durch den Tod von Mutter oder Vater erstarrt ist.

Das Konzept geht auf die Trauerbegl­eiterin Barbara Kieferle-Stotz zurück. Sie hat 2007 auf dem Karlsruher Hauptfried­hof bereits den Trauerweg „Lebensgart­en“entworfen, der sich mit Tod und Abschiedne­hmen befasst. „Er ist aber nur für Erwachsene geeignet. Ich wollte, dass es auch ein altersgere­chtes Pendant für Kinder gibt“, sagt Kieferle-Stotz, die seit gut zehn Jahren auch trauernde Kinder betreut. So entwickelt­e sie die Idee der „Kinderwelt­en“, die 2012 mithilfe von Spenden errichtet wurden. Das Projekt stieß auf so viel Resonanz, dass sich mehrere Städte für das Konzept interessie­rten. Bislang, sagt sie, sei Karlsruhe aber bundesweit einzigarti­g. Auch beim Verband der Friedhofsv­erwalter Deutschlan­ds kennt man keine ähnliche Anlage.

„Mama, was ist das? Da ist so was Schwarzes an der Rutsche“, ruft Lilli. Sie ist inzwischen in der „Trauerwelt“angekommen, ohne das zu wissen. Dort hängt eine Gummimatte an der Rutsche, sodass man diese nicht benutzen kann. Ein paar Meter weiter versucht ihr dreijährig­er Bruder, eine fest zementiert­e Schaufel aus dem Boden zu ziehen. „Hier kann man nicht spielen“, erklärt die Mutter, die sich betreten die Tafeln ansieht, die hier aufgestell­t sind. Die Bilder und Texte darauf stammen von trauernden Kindern und Jugendlich­en. „Ist mein Papa jetzt ein Ängel?“, steht da in krakeliger Schrift. Oder: „Als meine Mutter gestorben ist, war meine größte Sorge, dass mein Papa auch noch stirbt.“Lillis Mutter wendet sich ab. „Das ist so traurig, ich mag’s gar nicht lesen.“

Für andere sind die Texte tröstlich. Etwa für Luca, der an diesem Tag mit einer Kinder-Trauergrup­pe den Spielplatz besucht. „Es ist

Am 1. November schmücken Katholiken Gräber mit Grün, segnen sie mit geweihtem Wasser und stellen eine Kerze auf. Sie drücken damit ihre Zuversicht aus, dass die Menschen nach dem Tod in der Gemeinscha­ft mit Gott sind. Das ursprüngli­ch als Frühlingsf­est nach Pfingsten gefeierte Allerheili­gen wird seit dem 9. Jahrhunder­t am 1. November begangen.

Das eng mit Allerheili­gen verbundene Fest am 2. Novem- gut zu sehen, dass es anderen Kindern ähnlich geht“, sagt der 14-Jährige, dessen Vater im Frühjahr an Krebs gestorben ist. „Und dass es Menschen gibt, die einen verstehen.“Gleichaltr­ige nämlich reagieren manchmal ziemlich unsensibel. Nicht selten, erzählt Barbara Kieferle-Stotz, würden trauernde Kinder sogar zu Mobbing-Opfern. So berichtet sie von einem Jungen, dem Mitschüler nach dem Tod seines Vaters den Ranzen ausleerten und riefen: „Jetzt ist keiner mehr da, der auf dich aufpasst!“Um Verständni­s für trauernde Mitschüler zu wecken, findet die Sozialpäda­gogin es wichtig, auch Schulklass­en durch die „Kinderwelt­en“zu führen. „Wenn die Schüler die Texte lesen, sind sie oft sehr betroffen.“

Auch Kritiker würden dann stumm. Und davon gab es, vor allem in der Bauphase, nicht wenige. „Wir mussten uns zum Teil krasse Dinge anhören“, sagt Kieferle-Stotz – und erzählt folgende Geschichte: Als ber ist der eigentlich­e Totengeden­ktag der katholisch­en Kirche. Gläubige stellen „Seelenlich­ter“auf Gräber und beten für Seelen im Fegefeuer, die nach Auffassung der Kirche noch keine volle Gemeinscha­ft mit Gott erreicht haben. Sie leisten Fürbitten und schmücken Gräber. Eingeführt wurde der Tag im Jahr 998 von Odilo, dem Abt des Klosters Cluny (Frankreich).

Die Reformator­en lehnten den katholisch­en Seelenkult ab und strichen das Allerseele­nfest aus zwei kleine Mädchen gerade dabei waren, ein Spielgerät zu beschrifte­n, rief eine Friedhofsb­esucherin ihnen zu: „Verflucht sollt ihr sein! Was ihr hier auf dem heiligen Gottesacke­r macht!“Zu einem Gespräch sei die Frau nicht bereit gewesen. Inzwischen habe sich die Aufregung gelegt. „Das Vorurteil, dass hier Kinder und Jugendlich­e Krawall machen, hat sich nicht bewahrheit­et.“

Dennoch sind nicht alle Karlsruher froh über die Anlage. Etwa der Mann im blauen Arbeitskit­tel, der Blätter am Grab seines Vaters zusammenke­hrt. „Wir sind nicht begeistert, dass es mitten auf dem Friedhof einen Spielplatz gibt“, sagt er. Seine Mutter, eine alte, gebeugte Frau, die gerade die Grablampe putzt, schaut auf und nickt. Der Mann sucht nach Worten und sagt schließlic­h: „Ein Friedhof ist kein geeigneter Ort zum Herumtoben und zum Froh-Werden.“Ein anderer älterer Mann schimpft auf die „Geldversch­wendung“für solche Projekte. „Und dann funktionie­ren die Sachen da noch nicht mal!“

Noch immer ist die Ansicht, dass Kinder auf Friedhöfen nichts zu suchen haben, weit verbreitet. In Internetfo­ren finden sich unzählige Einträge zu Fragen wie: „Kann man kleine Kinder auf den Friedhof mitnehmen?“In den Antworten klingen häufige Vorstellun­gen mit wie: Kinder stören auf Friedhöfen, Gräber machen ihnen Angst, und überhaupt kann man Kindern das Thema Tod nicht zumuten.

Wenn der Theologe Oliver Wirthmann vom Kuratorium Deutsche Bestattung­skultur Derartiges hört, läuft er zur Höchstform auf. „Kinder von Beerdigung­en und Friedhöfen fernzuhalt­en, ist grundverke­hrt. Kinder müssen sehen, wie geweint wird“, sagt er und kritisiert die große Unsicherhe­it, die in unserer Gesellscha­ft im Umgang mit dem Tod vorherrsch­t. Statt falscher Rücksichtn­ahme rät er zu ehrlichen Worten gegenüber Kindern. So sei es besser zu sagen: Der Opa kommt nie mehr zurück, als Unfug zu erzählen wie: Der Opa ist auf einer Wolke. „Nichts verunsiche­rt Kinder mehr, als wenn sie merken: Die Erwachsene­n wollen etwas Schrecklic­hes vor mir verbergen“, sagt Wirthmann. Vor diesem Hintergrun­d sehe er es „sehr positiv, was da in Karlsruhe passiert“.

Möglicherw­eise wird es in nächster Zeit noch mehr Versuche geben, Friedhöfe kinderfreu­ndlicher zu gestalten. „Das Thema kommt zunehmend hoch“, sagt Wirthmann. So wurden 2010 auf dem Pragfriedh­of Stuttgart zwei Wippgeräte installier­t. Auf dem Friedhof Bergäcker in Freiburg können die Kleinen in der Nähe des Kindergräb­erfelds in einem eigenen Bereich sandeln. Und auf dem Friedhof Ahrensburg in Schleswig-Holstein ist Spielen ebenfalls erlaubt. Der dortige „Garten der Kinder“, wo totgeboren­e und früh verstorben­e Kinder begraben werden, richtet sich auch an kleine Besucher. Bereits bei der Planung wurden diese mit einbezogen.

Und in Bayern? Bislang weiß man hier weder im zuständige­n Gesundheit­sministeri­um noch beim Bestatterv­erband von Spielplätz­en nach Karlsruher Beispiel. Theoretisc­h wäre es zwar möglich, solche zu errichten, die Entscheidu­ng darüber sei aber Sache der Gemeinden, heißt es im Gesundheit­sministeri­um.

In Nordrhein-Westfalen wiederum gibt es Projekte, die sogar noch weitergehe­n. So bietet Bergisch Gladbach gleich zwei Waldkinder­gärten in unmittelba­rer Nähe von

Ein Kind schreibt: „Ist mein Papa jetzt ein Ängel?“

Wie Christen im November der Toten gedenken Auf einem anderen Friedhof gibt es sogar Popkonzert­e

Gräbern. Einer davon, der Kindergart­en Nußbaum, ist komplett im städtische­n Friedwald gelegen. „Wenn dort Bestattung­en sind, bekommen die Kinder das aus nächster Nähe mit“, erzählt Sigrid Dill von der Arbeiterwo­hlfahrt RheinOberb­erg, dem Träger der Einrichtun­gen. Für die Kleinen sei es normal, zwischen den Grabstätte­n zu spielen. „Die sagen dann auch mal: Da liegt mein Opa!“

Der andere Kindergart­en befindet sich auf einem parkähnlic­hen Gelände, das zum privaten Friedhof der Firma Pütz-Roth gehört. „Die Kinder sind dort herzlich willkommen“, betont Bestatter David Roth, der überhaupt findet: „Friedhöfe sollten lebendiger­e Orte sein.“Deshalb veranstalt­et er auf seinem Gelände schon mal ein Popkonzert oder erlaubt es, dort zu grillen.

So etwas wäre in Karlsruhe nicht denkbar. Ein Schild am Eingang der „Kinderwelt­en“ermahnt unter anderem zu „Rücksichtn­ahme und Respekt“denjenigen gegenüber, die „in Ruhe ein Grab besuchen möchten“. Lilli ist inzwischen wieder in der heilen Welt angekommen und schaufelt versonnen im Sand. Sie mag nicht gehen. Als ihre Familie schließlic­h doch aufbricht, ruft sie laut: „Wartet!“Die Mutter ermahnt sie sofort: „Nicht herumschre­ien!“

Dann ist auch Lilli weg. Der Spielplatz liegt verlassen da. Nur die Schuhabdrü­cke im Sand erinnern an die kleine Besucherin.

 ?? Foto: Angela Stoll ?? Ein Spielplatz mitten auf dem Friedhof – in Karlsruhe ist das seit drei Jahren Realität. Er ist in zwei Bereiche unterteilt, in einen „fröhlichen“und einen „traurigen“. Eine Holzbrücke verbindet die beiden Teile.
Foto: Angela Stoll Ein Spielplatz mitten auf dem Friedhof – in Karlsruhe ist das seit drei Jahren Realität. Er ist in zwei Bereiche unterteilt, in einen „fröhlichen“und einen „traurigen“. Eine Holzbrücke verbindet die beiden Teile.
 ?? Archivfoto: Uli Deck, dpa ?? Noch pietätvoll? Spielende Kinder auf dem Friedhof.
Archivfoto: Uli Deck, dpa Noch pietätvoll? Spielende Kinder auf dem Friedhof.

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