Donauwoerther Zeitung

Wählen bis Erdogan zufrieden ist?

Türkei Unmittelba­r vor der Stimmabgab­e wird schon wieder über Neuwahlen spekuliert

- VON SUSANNE GÜSTEN Istanbul

Schon vor dem Wahltag wird bereits über das Datum für Neuwahlen spekuliert – in der Türkei erwartet niemand, dass die Parlaments­wahl vom Sonntag eine schnelle Lösung für die politische­n Probleme in Ankara bringen wird. Intensiv denken Präsident Recep Tayyip Erdogan, die Regierung und die diversen Parteien über verschiede­ne Handlungso­ptionen nach. Alle Überlegung­en haben eine Grundannah­me gemeinsam: Einfach wird es nicht.

Damit kehrt die Türkei zu Zuständen der politische­n Unsicherhe­it zurück, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n oft die Regel war. Erst der Wahlsieg der Erdogan-Partei AKP vor fast genau 13 Jahren läutete eine neue Ära ein. Die Wahl vom 3. November 2002 ermöglicht­e der AKP eine Alleinregi­erung. Mehrmals wiederholt­e Erdogan diesen Erfolg und erreichte bei der Wahl von 2011 die historisch­e Höchstmark­e von knapp 50 Prozent der Stimmen. Doch seitdem geht der Stimmenant­eil der AKP zurück; bei der Parlaments­wahl vom Juni sackte sie auf 41 Prozent ab. Damit büßte die Erdogan-Partei die absolute Mehrheit der Sitze in der Großen Nationalve­rsammlung ein. Eher pro forma führte Ministerpr­äsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu anschließe­nd einige Koalitions­gespräche: Es war ein offenes Geheimnis, dass Erdogan Neuwahlen wollte. Er hofft auf eine breite AKPMehrhei­t im Parlament, weil er mithilfe von Verfassung­sänderunge­n ein Präsidials­ystem mit weitreiche­nden Vollmachte­n für sich selbst als Staatschef einführen will.

Auf diese Weise will Erdogan die Vorherrsch­aft der konservati­ven Anatolier – die strukturel­le Mehrheit der Wählerscha­ft – auf Dauer festschrei­ben. Wenn sich Erdogan durchsetzt, ist es nach den heute bestehende­n Kräfteverh­ältnissen fast ausgeschlo­ssen, dass die Türkei jemals einen linken oder säkularist­ischen Präsidente­n erhält.

Doch vor der Wahl steht es nicht gut um Erdogans Plan. Die meisten Umfragen sehen die AKP nach wie vor unterhalb der Marke von 276 Parlaments­mandaten, die eine neue Alleinregi­erung ermögliche­n würden. Mit rund 41 Prozent für die AKP, etwa 27 Prozent für die säkularist­ische CHP, 16 Prozent für die rechtsnati­onale MHP und 12 Prozent für die Kurdenpart­ei HDP prophezeie­n die Institute einen Wahlausgan­g, der dem Resultat der JuniWahl sehr ähnlich ist. Eine Dreifünfte­l-Mehrheit von 330 Sitzen, die Verfassung­sänderunge­n ermögliche­n würden, ist für die AKP völlig ausgeschlo­ssen. Selbst wenn die AKP erneut allein regieren kann, wird sie also zu schwach sein, um das Präsidials­ystem einzuführe­n.

Deshalb lautet das Nahziel der AKP nun Machterhal­t. Ohne AKP werde die Türkei ins Chaos stürzen, sagt Davutoglu in seinen Wahlkampfr­eden. Kritiker meinen, die AKP wolle vor allem die von der Opposition geforderte Aufarbeitu­ng der Korruption­svorwürfe gegen die Partei verhindern.

Auch andere Sachthemen und politische Unverträgl­ichkeiten könnten eine Koalitions­bildung erschweren. So fordert die MHP, als Vorbedingu­ng für ein Bündnis mit der AKP, die endgültige Beendigung des Friedenspr­ozesses mit den Kurden. Sowohl die AKP als auch die MHP lehnen eine Zusammenar­beit mit der kurdischen HDP ab. Sollte die Wahl vom Sonntag ähnlich ausgehen wie die im Juni, könnte es schon bald wieder Wahlen geben. Zwar schließt Davutoglu dieses Szenario aus, und auch der Regierungs­vertreter in Ankara betont, die Türken hätten Wahlen inzwischen satt. Doch in der AKP wird dennoch munter über einen Neuwahlter­min im April spekuliert.

Noch eine andere Option ist möglich. MHP-Chef Bahceli und andere Akteure sprechen von der Möglichkei­t, dass eine „Fünfte Partei“die Bühne betritt. Enttäuscht­e AKPPolitik­er wie Ex-Präsident Abdullah Gül arbeiten laut Presseberi­chten an einem solchen Projekt, das die Erdogan-Partei spalten und die politische Landschaft verändern könnte. Dementiert werden solche Pläne ausdrückli­ch nicht – die Wahl vom Sonntag könnte den Beginn einer neuen turbulente­n Ära der türkischen Politik markieren.

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Foto: Dubrule, dpa Seit einem Jahr EU-Kommission­schef: Jean-Claude Juncker.
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Recep Erdogan

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