Der Doktor und das arme Vieh
Tierschutz Viele Tierärzte stecken im Dilemma. Haustiere genießen bei ihren Besitzern immer größeren Stellenwert, während Nutztiere brutal unter ökonomischem Druck leiden. Jetzt reagieren die Mediziner
Von der Untersuchung im Computertomografen bis zur Krebsstrahlentherapie – der medizinische Fortschritt kommt nach dem Erfolg beim Patienten Mensch auch immer mehr Tieren zugute. Zumindest gilt das für viele der über 30 Millionen Haustiere in deutschen Haushalten.
Laut einer Studie der Universität Göttingen geben die Haustierbesitzer über zwei Milliarden Euro im Jahr für den Besuch beim Tierarzt aus: Hundehalter im Schnitt 140 Euro im Jahr, Katzenbesitzer knapp die Hälfte. In Einzelfällen investieren Tierhalter etwa bei Krebserkrankungen ihrer ans Herz gewachsenen Lieblinge mehrere tausend Euro in die Behandlung.
„Während früher eher pragmatisch und am finanziellen Aufwand orientiert zu entscheiden war, sind heute viele Heimtierbesitzer bereit, hohe Kosten zu übernehmen“, stellt die Bundestierärztekammer fest. Auf dem Deutschen Tierärztetag in Bamberg diskutierten die Mediziner das Phänomen, das die 12 000 in der Bundesrepublik tätigen Tiermediziner teilweise auch vor wachsende ethische Probleme stellt.
Für immer mehr Besitzer haben Haustiere eine hochemotionale Bedeutung und werden als Partner oder Familienmitglieder betrachtet. Ähnlich wie in der Ethikdebatte der Humanmedizin stellen sich damit auch für die Tierärzte wichtige Fragen: Wo hilft Palliativmedizin wirklich und wo wird das Geschöpf nur länger am Leben erhalten, wenn es leidet? Oder ist die Euthanasie des „Einschläferns“zwar die kostengünstigere Lösung, aber im Angesicht des medizinischen Fortschritts ethisch unangebracht?
Ein noch viel größeres Dilemma erleben viele Tierärzte im Bereich der Nutzviehhaltung, wo im Vergleich zu den Haustieren eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten ist: „Der monetäre Wert des Einzeltieres ist nicht nur beim Geflügel, sondern auch beim Schwein und zunehmend sogar beim Rind oft so gering, dass viele Tierbesitzer eine Einzeltierbehandlung nicht durchführen lassen, auch wenn sie möglich wäre“, kritisiert die Bundestierärztekammer. Etliche Besitzer würden sogar die Kosten der Euthanasie scheuen. Die Konsequenz ist völlig unnötiges Leid in deutschen Ställen.
Inzwischen sind die ethischen Fragen auch in vielen anderen Bereichen der Tiermedizin so herausfordernd, dass sich die Medizinervereinigung auf dem Deutschen Tierärztetag erstmals in ihrem über sechzigjährigen Bestehen auf einen umfangreichen Ethikkodex verpflichtet hat. „Mit dieser Selbstver- pflichtung übernehmen wir Verantwortung für den Tierschutz und verpflichten uns, über die gesetzlichen Mindeststandards hinauszugehen“, erklärt der Tiermedizin-Professor Thomas Blaha aus Hannover.
So heißt es in dem gestern beschlossenen Kodex, die Tierärzte „vertreten die Interessen der Tiere gegenüber der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, zeigen Missstände auf und helfen sie zu beseitigen“.
Insbesondere bei der Nutzviehhaltung gebe es nicht nur für die Amtsveterinäre, sondern auch für die privaten Tierärzte Herausforderungen zum Handeln. „Wir haben die ethische Verpflichtung, für alle Tiere die Lebensbedingungen zu verbessern“, betont Blaha. Der Vorsitzende der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz sieht jedoch die Förderung von Bio- oder anderen Gütesiegeln eher kritisch: „Mit welchem Recht wollen wir ein paar wenigen Tieren, deren Fleisch von reichen Menschen gekauft wird, ein viel besseres Leben gönnen und den anderen nicht?“
Der Tierarzt sieht die Politik in der Pflicht, freiwillige Lösungen des Handels reichten nicht aus: „Das Gegenmodell zu den vielen Siegeln ist, dass die Verbraucher für alle Lebensmittel tierischen Ursprungs einen winzigen Betrag mehr zahlen“, sagt Blaha. „Wenn wir für jedes Kilogramm Fleisch und Wurstwaren nur zehn Cent mehr zahlen und das Geld direkt beim Tierschutz in der Landwirtschaft ankommt, hätten wir ein Milliardenprogramm für bessere Haltungsbedingungen.“Es sei Unfug, „auf die Landwirte einzuprügeln, denn wenn sie nicht zum gewünschten Preis liefern, kaufen die Handelsketten im Ausland“. Auch viele Verbraucher müssten ihr gespaltenes Verhältnis zwischen Haustierliebe und Konsum von Billigfleisch überdenken.
Der Ethikkodex rückt zudem die Beratung von Heimtierhaltern mehr in den Vordergrund und erklärt bei allen Behandlungen das Wohl des Tieres zum Maßstab. In Tendenzen zur Vermenschlichung der Haustiere sieht der Tiermediziner Blaha allerdings kein großes Problem: „Selbst wenn jemand seinem Bernhardiner Goldzähne einsetzen lassen wollte, heißt das noch lange nicht, dass er das Geld andernfalls karitativen Zwecken spenden würde.“
„Mit welchem Recht wollen wir ein paar wenigen Tieren, deren Fleisch von reichen Menschen gekauft wird, ein viel besseres Leben gönnen und den anderen nicht?“
Tiermedizin-Professor Thomas Blaha