Lion Feuchtwanger – Erfolg (196)
EUm die Begnadigung ihres zu Unrecht verurteilten Freundes zu erreichen, setzt Johanna alle Hebel in Politik, Kirche, Adel in Bewegung. Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman ISBN 978-3-7466-5629-8, Broschur, 878 Seiten, € 14,99. Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlages, Berlin ©
ine Abteilung Bewaffneter zum Beispiel, die in einem Sonderzug durchs Land fuhr, hatte als Ausweis einen Schein: „Vierhundertdreißig Kinder über zehn Jahre.“
Die Wahrhaft Deutschen schwammen im Geld. Die Industrie, der die vaterländische Bewegung nicht nur als Rückendeckung gegen die Forderung der Arbeiter, sondern auch als Druckmittel auf die Feinde willkommen war, sparte nicht. Auch sonst viele Begeisterte, patriotisch Entrüstete, gaben Geld. Der Diener eines Wittelsbacher Prinzen zum Beispiel, der eine größere Stimme gestohlen hatte, konnte im Prozeß darauf hinweisen, daß er aus der Beute einen ansehnlichen Betrag für die Parteikasse der Patrioten gestiftet habe. Auch das Ausland spendete. Man sah in Frankreich nicht ungern den wilden Revanchegeist der Patrioten. Bewies er nicht die Notwendigkeit, sich Garantien zu schaffen, Pfänder besetzt zu halten?
Rupert Kutzner erklärte in seinen
Reden die von der Reichsregierung proklamierte Einheitsfront des ganzen Volkes als stinkende Jauche und groben Schwindel. Nur Taten könnten zum Sieg führen. Die Zeit, bis man gegen die Franzosen gehe, müsse man ausnützen gegen den inneren Feind. Sei der erst ausgerottet, werde Deutschland automatisch wieder Weltmacht. Vordringlichste Aufgabe sei die Abrechnung mit den Novemberlumpen. Die müsse vorgenommen werden ohne Sentimentalität, mit unbedingter Wut. Die halben Maßnahmen müßten aufhören. Passiver Widerstand sei Blödsinn. Eine sizilianische Vesper müsse her. In Trümmer mit den Schwatzbuden der Revolution. Volkstribunale müßten eingesetzt werden, die nur zwei Urteile zu fällen hätten: Freispruch oder Tod. Allgemeine Wehrpflicht sei einzuführen, die Kontrollstäbe der Feinde als Geiseln festzunehmen. Kommunisten und Wahrhaft Deutsche müßten sich vereinigen, sie gehörten zusammen. Denn bloß Kommu- nisten und Wahrhaft Deutsche seien Tatmenschen; was in der Mitte stehe, seien Schleimsieder. Die große vaterländische Erneuerung stehe vor der Tür. Noch vor der Baumblüte werde sie sich entfalten. Das Volk stehe auf, der Sturm breche los.
Die Unterführer wandelten seine Worte noch kräftiger ab. Ministerköpfe würden in den Sand rollen. Man werde nicht ruhen, bis nicht an jedem Laternenpfahl eines von den roten Novemberschweinen hänge. Auf Kraut fressen werde man die Köpfe der Berliner Judenregierung.
Großartig, mit Sang und Klang, in aller Öffentlichkeit, betrieben die Wahrhaft Deutschen ihren Aufmarsch. Freilich waren es sehr viele junge Leute, selbst zwölfjährige Schüler wurden von den Stoßtrupps nicht zurückgewiesen. Freilich war auch viel Geschwerl darunter, Gesindel, und die Behörden, bei aller Milde, konnten unter dem Druck des Ministers Messerschmidt nicht umhin, den einen oder andern herauszugreifen und wegen schwerer Eigentumsdelikte abzuurteilen. Doch der Zahl und der Ausrüstung nach waren die Truppen Kutzners nicht unansehnlich. Der Führer nahm Parade ab. Gelehnt an sein Auto, mit unbeteiligten Augen, ließ er die Leute vorbeimarschieren. Mit verschränkten Armen, in der Haltung, in der Konrad Stolzing in dem Lustspiel „Des Kaisers Befehl“den Napoleon dargestellt hatte, eine Figur des französischen Bühnendichters Scribe.
Gewaltig durch das Land scholl es: noch vor der Baumblüte. In der Stadt München zeigten sich immer mehr Leute mit grünen Säcken auf dem Rücken, sogenannten Rucksäcken, und Hüten auf dem Kopf, die mit Bocksbärten in der Form von Rasierpinseln, sogenannten Gamsbärten, geschmückt waren: Bauern aus dem Umkreis, die eine zweite Befreiung Münchens veranstalten wollten. Am Stachus bildeten sich erregt debattierende Gruppen. „Noch vor der Baumblüte“, riefen die Patrioten und verprügelten, wer irgend als Gegner angesehen wurde. Auf der Landstraße von Schliersee nach Miesbach zogen zwei Handwerksburschen, singend: „Zwei rote Rosen, ein zarter Kuß.“- „Noch vor der Baumblüte“, riefen entgegenkommende Patrioten und fielen über sie her. Sie hatten verstanden: „Zwei rote Hosen und Spartakus.“
Die Gegner hielten nicht immer still. Manchmal, trotz besserer Bewaffnung, wurden Patrioten verhauen. In Österreich durchsuchten Arbeiter einen Zug, in dem Vesemann zu Wiener Parteifreunden fuhr, und der General mußte einige unangenehme Stunden im Abort seines Abteils verbringen. Im Reichstag, im bayrischen Landtag, in ihren Parteiorganen empörten sich die Sozialdemokraten gegen die gesetzlosen Zustände. Mit geringem Erfolg. Der einzige Messerschmidt setzte manchmal eine schärfere Maßnahme gegen die rebellischen Patrioten durch. Das Kabinett als Ganzes zögerte. Kutzner hatte so oft einen Putsch angesagt; bis zur Baumblüte war noch lange Zeit; bis dahin war er die beste Waffe gegen die Roten. Währenddessen nahm das Elend der Bevölkerung zu. Das Nichtfunktionieren des Ruhrgebiets war ein Defekt, der die ganze Maschinerie des Reichs störte. Auf dem Lande zwar saß man schuldenfrei, lebte mit der zunehmenden Inflation immer üppiger; immer mehr Bauern hielten sich Automobile und Rennrösser. In den Städten aber stieg der Hunger. Das Brot wurde gesundheitsschädlich wie im Krieg. Die Magenkrankheiten nahmen zu. In den Schulen saßen die Kinder ohne Frühstück, wurden ohnmächtig während des Unterrichts. Tuberkulose griff um sich; der Betrag, den der Landtag für ihre Bekämpfung bewilligte, war hundertzwanzigmal kleiner als der Betrag für die Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche. Die Säuglingssterblichkeit stieg. Die jungen Mütter, gezwungen zur Berufsarbeit, mußten darauf verzichten, ihre Kinder zu stillen. Wieder dienten muffige Höhlen als Wohnungen, Zeitungspapier als Wäscheersatz, Pappschachteln als Kinderbetten. Es war ein kalter Winter. An der Ruhr bedeckte sich immer weiter das Land mit hochgeschichteter Kohle; doch auf diese Kohle fiel Schnee, und ein großer Teil Deutschlands fror in ungeheizten Räumen. Der Dollar kostete 20815 Mark, die Semmel 75, das Pfund Brot 700 Mark. Ein Pfund Zucker 1300 Mark. Die Löhne blieben zurück. Der Kardinalerzbischof von München erklärte, Teuerung, Lebensmittelwucher wüte heute ärger als der bethlehemitische Kindermord und die schlimmsten Hungersnöte der Bibel.
Die Wahrhaft Deutschen aber kleideten ihre Beamten und ihre Landsknechte in warmes, dauerhaftes Tuch und nährten sie gut und reichlich. Sie sangen: „Nachts lieg ich beim Schatz im Bett / Tags schlag ich den Juden tot / Dabei werd ich dick und fett / Meine Fahn ist schwarzweißrot.“Sie sangen: „Und wenn sie uns die Stiefelsohln mit Kaviar beschmiern / Wir lassen und wir lassen uns von Juden nicht regiern / Pfui Judenrepublik.“Sie sangen: „Heute für dies / Morgen für das / Suff und Fraß / Muß ein Landsknecht haben.“