Der Kampf um die Noten
Nachhilfe boomt. Es ist ein Milliardengeschäft. Auch Grundschüler lassen sich schon helfen. Unfassbar? Eine Suche nach Erklärungen
dümmer oder die Eltern immer ehrgeiziger? Oder sind es eben doch alle, die Gesellschaft eben, die Schulabschlüsse immer höher bewertet und damit den Druck erhöht und die ganze Familie kirre macht? Ursachenforschung also!
Anruf bei Professor Dr. Ludwig Haag in Bayreuth. Seit 30 Jahren forscht Haag zum Thema, er hat einen Ratgeber für Nachhilfelehrer geschrieben, denn „wenn die Eltern schon Geld ausgeben, soll die Qualität ja auch stimmen“. Was die Schuldfrage betrifft, da gibt es von ihm gleich den ersten Freispruch. An den Schülern liege es nicht, „die sind ja nicht dümmer geworden“. Schon vor 100 Jahren habe es Nachhilfe gegeben. Das Problemfach damals: Latein! „Aber das war natürlich eine kleine Gruppe.“Das Gymnasium galt damals noch als elitärer Bildungshort, heute dagegen ist es nach dem Übertritt die am häufigsten gewählte Schulart. Und das größte Problemfach im Übrigen Mathematik. Siehe Jan.
Und damit ist Haag auch schon mitten drin im zu bearbeitenden Stoff. Die Rechnung, die er aufstellt, würde auch Jan sofort begrei- Ist ja auch einfach: immer mehr höhere Abschlüsse, immer mehr Nachhilfe. Der Satz des Pythagoras will auch heute erst einmal verstanden sein! Weil die Rechnung um einen weiteren Faktor X, das sind die Eltern, erweitert werden muss, wird es schon ein wenig komplizierter.
Laut einer Forsa-Studie glaubt jeder vierte Elternteil, dass Schulen ihre Schüler zu wenig fördern. Dass man also irgendwie selber nachhelfen muss. Selbst wenn das Kind mit sehr guten Noten nach Hause kommt, sehen 64 Prozent der Eltern noch Förderbedarf. Nachhilfe als Ergänzungs- und nicht als Notprogramm? Barbara Fugmann vom Stetten-Institut macht seit einigen Jahren ähnliche Beobachtungen. Die Lehrerin organisiert mit Kollegen in der Augsburger Schule das Tutorensystem. Ältere Mitschüler helfen jüngeren. Früher stieg die Nachfrage vor allem ab der 7. Klasse, wenn sich herausstellte, dass es nun beispielsweise in Englisch wirklich hapert. Mittlerweile kämen schon die Fünftklässler, bevor es mit den Noten überhaupt erst richtig losgehe. „Die Eltern haben viel mehr Sorge, dass ihr Kind nicht mitSchüler sagt Barbara Fugmann, dass zum Beispiel das Englisch aus der Grundschule nicht ausreiche. „Die haben doch da nur Lieder gesungen“, heißt es dann beispielsweise. Beim ersten Elternabend der fünften Klassen sagt Barbara Fugmann daher immer: „Lassen Sie Ihren Kindern jetzt ruhig mal Zeit.“
Auch die guten Schüler kommen, um die Noten noch zu verbessern
Das aber fällt Eltern immer schwerer. Schon jeder sechste Grundschüler bekommt Extra-Unterricht, vor allem, wenn es auf den Übertritt zugeht. Im Studienkreis Augsburg, einer der rund 1000 Niederlassungen des bundesweiten Anbieters, wird auch Nachhilfe für Drittklässler nachgefragt. Die ersten Grundschüler tauchen auf, „wenn da in Mathe oder Deutsch plötzlich die Note Drei kommt“, sagt Studioleiterin Sandra Lößl. Der größere Ansturm erfolgt dann aber doch erst in den höheren Klassen. Alles schlechte Schüler? Mitnichten. Natürlich gäbe es da die üblichen, pubertätsbedingt eher unmotivierten Siebt- oder Achtklässler, die kommen, wenn es brenzlig wird. „Da geht es dann dafen. rum, wie kann ich das Schuljahr noch schaffen.“Aber unter den Schülern finden sich auch solche, die der eigene Ehrgeiz treibt, die beispielsweise die Abiturnote oder die Zensuren für die mittlerere Reife noch nach oben treiben wollen. Hochsaison herrscht im Nachhilfegeschäft daher immer im Frühjahr. Da verdoppelt sich die Schülerzahl im Augsburger Studienkreis dann von 80 auf etwa 150.
Vor allem die Studios profitieren vom Boom. Der Studienkreis zählt mit einem jährlichen Umsatz von rund 80 Millionen Euro neben der Schülerhilfe zu den Branchenriesen, daneben gibt es eine immer größer werdende Zahl kleinerer Anbieter. Der Trend gehe zu professionellen Instituten, sagt auch Pädagogikprofessor Haag, etwa 40 Prozent der Nachhilfestunden finde dort statt. Unter anderem auch Hausaufgabenbetreuung, die eigentlich nicht unter Nachhilfe falle. „Da muss man trennen“, sagt Haag, aber beim Milliardengeschäft sei meist alles mitgerechnet. Die restlichen zwei Drittel des Kuchens teilen sich Lehrer, Studenten und Schüler, die privat ihre Dienste anbieten. So wie beispielskommt“, weise Sarah, 22, BWL-Studentin. Auf ein Angebot der Jobbörse an der Uni Augsburg kam sie zu ihrem ersten Nachhilfeschüler, seitdem muss sich Sarah nicht mehr um neue Aufträge kümmern: Sie wird weiterempfohlen. „Ich bekomme sehr viele Anfragen, aber ich habe keine Kapazitäten mehr.“Pro Stunde verlangt Sarah zehn Euro. Die Tutoren am Stetten-Institut erhalten acht Euro für 45 Minuten. Es gäbe auch Studienräte, die nehmen sechzig, sagt Haag. Im Studienkreis wiederum wird meist monatlich gezahlt: Ab 129 Euro für jeweils 90-minütigen Gruppenunterricht zweimal die Woche. So breitgefächert wie der Markt sind auch die Preise. In Amerika ist es mittlerweile durchaus gängig, dass der Schüler mit dem Nachhilfelehrer in Indien via Bildschirm sich ins Matheproblem vertieft – Bildung, aber bitte billiger!
Was die Studentin Sarah erlebt: Verständnisvolle Eltern, die manchmal verzweifelter sind als die Kinder. Schüler, die sich wenig zutrauen, schon gar nicht in Mathe. „Da müssen die Kinder erst einmal lernen, an sich zu glauben.“Und dann aber auch solche, die ihr freimütig gestehen: „Wenn du nicht da bist, schlage ich das Mathe-Buch nicht auf.“Mindestens um eine Note verbessern sich ihre Schüler eigentlich immer, sagt die Studentin. Ihr Erfolgsrezept: Die Sachen so simpel wie möglich erklären. Und dabei den Spaß nicht vergessen. Sagt so auch Sandra Lößl: „Die Lernatmosphäre ist wichtig.“Hauptsache anders als Schule! Von den Eltern als Nachhilfecoaches raten ohnehin alle ab. Auch Ludwig Haag: „Der Hausfrieden ist zu wertvoll!“
Womit wir wieder bei den Eltern wären, dem Faktor X. Und dem Arbeitsmarkt, Faktor Y sozusagen. Die Eltern heute würden alle für ihr Kind nur das Beste wollen, „und dazu zählt auch der beste Schulabschluss“, sagt der Pädagogikprofessor Haag, das führt dann, in der Fachsprache ausgedrückt, auch mal zu „übersteigerter Bildungsaspiration“. Zu hohe Erwartungen also. Das Kind, es soll eben fit sein für den nahenden Konkurrenzkampf um die besten Jobs. Wobei Haag bei der Ursachenforschung die Schulen gar nicht ausnehmen will. Mehr individuelle Förderung fordert er, mehr Förderangebote, mehr Ganztagsschulen. „Fünf weg oder Geld zurück…“, so wirbt das Unternehmen Schülerhilfe bundesweit für sein Angebot. Haag würde sich wünschen, dass in den Schulen selbst spätestens mit der Note Fünf eine individuelle Förderung einsetzen würde. „Das könnte doch schöne Zukunftsmusik sein.“
Und damit noch einmal zu Nico und Alex und der, wie sie es selbstbewusst nennen, „coolsten Nachhilfe Deutschlands“. In ihren Kommentaren sind die Schüler oft euphorisch. „Ihr wart die Rettung“, heißt es dann oder „Ich liebe euch, danke, danke, danke!“. Das sei total emotional, was er da zu lesen bekomme, sagt Alex. Frage also an ihn, eben noch Schüler: Warum ist da so ein Bedarf? Alex sagt, es hänge wohl auch mit der Gesellschaft zusammen. „Es ist cooler geworden, etwas zu wissen, gut in der Schule zu sein.“Von wegen Streber! Gute Noten sind sexy. Und auch ein chronischer Nichtversteher wie Jan kann es ja schaffen. O-Ton TheSimpleMaths beim Thema Kreis: „Den Abstand nennt man Radius. Wir kürzen hier den Radius jetzt mal mit r ab. Wird überall so gemacht eigentlich …“Alles im Grunde unfassbar einfach!