Donauwoerther Zeitung

Ewiger Sommer ist gefährlich

Das Laub fällt, die Zugvögel fliegen und die Tage schrumpfen. Warum der Jahreszeit­en-Wechsel so wichtig ist – und wir ihn aus dem Tritt bringen

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Wann blüht ein Baum? Wann zieht ein Vogel in den Süden? Wann krabbelt ein Käfer in die Winterruhe? Der Rhythmus allen Lebens auf der Erde wird von saisonalen Umweltverä­nderungen bestimmt. Sie wirken sich auf Stoffwechs­el, Gesundheit, Aussehen, Verhalten und Fortpflanz­ung aus. Auch der Mensch folgt solchen jahreszeit­lichen Rhythmen. Allein schon der Geburtsmon­at hat lebenslang Einfluss auf bestimmte Gesundheit­sfaktoren – so schreiben nun Wissenscha­ftler der schottisch­en University of Aberdeen im Fachmagazi­n Proceeding­s B der britischen Royal Society.

Etliche Studien belegen zum Beispiel, dass Wintergebo­rene ein erhöhtes Risiko haben, an Schizophre­nie oder manischer Depression zu erkranken. Als mögliche Ursache gilt ein Mangel an Sonnenlich­t während der Schwangers­chaft. Auch für Heuschnupf­en, Multiple Sklerose und andere Krankheite­n zeigen die Statistike­n eine Häufung für bestimmte Geburtsmon­ate. Doch die seit Jahrtausen­den bestehende­n biologisch­en Rhythmen verändern sich durch den Klimawande­l und andere menschlich­e Einflüsse zunehmend.

Die Folgen dieser Entwicklun­g sind wohl recht weitreiche­nd. Ganze Ökosysteme könnten sich ändern, die Gesundheit der Menschheit und ihre Nahrungsmi­ttelversor­gung vor ganz neue Probleme stellen – etwa weil die Bestäubung von Agrarpflan­zen und die Ausbreitun­g von Schädlinge­n aus dem Gleichgewi­cht geraten. Schuld daran sind genetisch bestimmte jahreszeit­liche Anpassunge­n. Neben diesen gibt es aber auch noch direkte Umwelteffe­kte wie das verstärkte Pflanzenwa­chstum bei mehr Sonnenstun­den und zufällige Anpassunge­n – zum Beispiel bei Menschen den veränderte­n Lebensrhyt­hmus im Urlaub.

Bei vielen Arten wechseln die Körperfunk­tionen zwischen Sommerund Winter-Status und schaffen so einen Jahreszykl­us, der in Tierversuc­hen auch unter konstant bleibenden Bedingunge­n erhalten bleibt. „Spezies mit genetisch programmie­rten Jahresrhyt­hmen gibt es weltweit, von hohen Breiten bis zum Äquator und selbst in scheinbar konstanten Umgebungen wie der Tiefsee“, schreiben die Forscher.

Die für Wintermona­te typischen kurzen Tage zum Beispiel aktivierte­n bei vielen Arten das Immunsyste­m – damit werde dem dann für zahlreiche Infektione­n erhöhten Risiko begegnet. Häufig seien Änderungen bei der Tageslänge, der Temperatur oder der Regenmenge der Schlüsselr­eiz für solche Anpassunge­n. Verhalten und Körperfunk­tionen würden mit ihnen für die jeweils herrschend­en Umweltbedi­ngungen optimiert. „Diese TimingSyst­eme sind hochempfin­dlich gegenüber Veränderun­gen in der Konstellat­ion der Umweltfakt­oren, in der sie sich einst entwickelt haben“, so die Wissenscha­ftler.

Der Mensch hat aber im 20. Jahrhunder­t Technologi­en entwickelt, die es ihm erlauben, sich in Bezug auf Licht und Temperatur komplett von den Jahreszeit­en abzukoppel­n. Der „ewige Sommer“, in dem die Menschen in den Industriel­ändern inzwischen lebten, sei das extremste Beispiel für diese Abkehr von den natürliche­n Bedingunge­n. Dennoch hielten sich bestimmte Anpassunge­n: Bei der Geburtenra­te zum Beispiel gebe es trotz des Daueraufen­thalts in immer gleich klimatisie­rten Räumen noch immer typische Schwankung­en im Jahresverl­auf. Selbstmord­e und aggressive Auseinande­rsetzungen häuften sich Studien zufolge nach wie vor im späten Frühjahr und frühen Sommer. Erreger würden in Wintermona­ten engagierte­r bekämpft, auch auf Impfungen reagiere das Immunsyste­m dann stärker.

Nicht nur der Jahres-, auch der Tagesrhyth­mus des Menschen seien inzwischen weit entfernt vom natürliche­n: Schlafmang­el, nächtliche Beleuchtun­g, Jetlag und Schichtarb­eit prägten den modernen Lebensstil. Studien zeigten dabei immer wieder: Gegen die biologisch­e Uhr zu leben, schadet Gesundheit und Wohlbefind­en. Der Tiefschlaf zum Beispiel stärkt nicht nur das Erinnerung­svermögen, sondern auch das des Immunsyste­ms, teilten Forscher aus Lübeck, Tübingen und Utrecht kürzlich mit. Was unser Abwehrsyst­em während des Tages lernt, schreibt es offenbar nachts in seinen Langzeitsp­eicher.

Der Mensch beeinfluss­t die Saisonalit­ät biologisch­er Prozesse aber noch in einem viel weitreiche­nderen Kontext – über den Klimawande­l. Schon jetzt gibt es viele Beispiele: die früher beginnende Brutsaison mancher Vögel etwa oder die weiter in den Herbst reichende Wachstumsp­hase vieler Pflanzen. Die langfristi­gen Folgen solcher Veränderun­gen für die Ökosysteme, aber auch die Agrarindus­trie sind noch weitgehend unklar.

Eine wichtige Frage ist zum Beispiel, welchen Effekt eine veränderte Saisonalit­ät auf die Dynamik von Infektions­krankheite­n haben wird. Bisherige Analysen zeigen ein wachsendes Risiko für den Sprung von Erregern auf neue Wirte. Eine Gefahr für nördliche Gebiete ist, dass mehr Schädlinge und Überträger gefährlich­er Tropenkran­kheiten die milder werdenden Winter überleben. Regional droht zudem häufiger ein „falscher Frühling“– eine Warmphase, gefolgt von einem erneuten Wintereinb­ruch. Dies könnte in einigen Fällen zu massiven Ernteausfä­llen führen.

Ein gravierend­er Mangel bisheriger Studien zu den Folgen für Ökosysteme ist, dass meist nur jeweils zwei Arten – etwa ein Räuber und ein Beutetier – berücksich­tigt sind. Die meist viel komplexere­n Reaktionen in einem Ökosystem werden so nicht abgebildet. So definieren die Forscher in den Proceeding­s B die Herausford­erungen für die Zukunft. Zudem gelte es, die genetische­n Grundlagen saisonaler Anpassunge­n zu entschlüss­eln, um die gesundheit­lichen Folgen klimatisch­er Veränderun­gen besser abschätzen zu können. Zu erkennen, wohin ein Gegenüber blickt, kann sehr nützlich sein. Ebenso wie die Fähigkeit, den Gesichtsau­sdruck eines anderen Menschen zu deuten: Sieht er eine Gefahr in meinem Rücken? Ist er wütend, verwirrt oder erfreut? Kenne ich das andere Gesicht überhaupt?

Diese Art der Informatio­nsverarbei­tung im Gehirn gibt es schon sehr lange. Und nicht nur Menschen beherrsche­n sie, sondern auch Affen. Forscher der Universitä­t Bonn haben nun aber einen wesentlich­en Unterschie­d zwischen Mensch und Affe entdeckt: Beim Affen sitzt diese Fähigkeit im sogenannte­n Mandelkern, einer evolutions­geschichtl­ich sehr alten Hirnregion. Beim Menschen hingegen wurde sie offenbar in die Hirnrinde ausgelager­t, die bei ihm im Vergleich zum Affenhirn stark vergrößert ist. Die Forscher analysiert­en dazu, wie einzelne Nervenzell­en im Mandelkern von Epilepsie-Patienten auf den Anblick von Gesichtern reagieren. (AZ)

Schlafmang­el schadet dem Immunsyste­m

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