Donauwoerther Zeitung

Der Terror und die Frage nach der Schuld

Türkei Dass der Attentäter von Istanbul ausgerechn­et an Neujahr mordete, dürfte kein Zufall gewesen sein. Die Stimmungsm­ache gegen „unislamisc­he“Bräuche wird immer aggressive­r – dabei spielt die Regierung eine wichtige Rolle

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Es ist kurz vor halb zwei in der Silvestern­acht und im „Reina“geht es hoch her. In dem edlen Istanbuler Klub am Bosporus-Ufer feiern mehrere hundert Menschen mit Champagner, Wein und Whisky das neue Jahr. Das „Reina“ist so teuer, dass ein schöner Abend hier mehr kosten kann, als ein Durchschni­ttstürke im Monat verdient. Manche Gäste kommen nicht mit dem Wagen zum Klub, sondern mit ihrer Jacht. Türsteher und Sicherheit­sleute sollen die Spielwiese der Schickeria schützen, aber innerhalb von sieben Minuten, die um 1.22 Uhr beginnen, verwandelt sich die Neujahrspa­rty in einen Albtraum.

Während drinnen gefeiert wird, rennt draußen ein Angreifer mit einem Schnellfeu­ergewehr auf den Eingang zu. Manche sagen, er habe ein Weihnachts­mannkostüm getragen, doch Ministerpr­äsident Binali Yildirim wird das später dementiere­n. Der Unbekannte erschießt erst einen Polizisten und einen weiteren Menschen und läuft dann, wild um sich feuernd, ins Innere des Klubs. Leute schreien, stürzen blutend zu Boden. Eine Frau wird später berichten, sie habe nur überlebt, weil mehrere Leichen auf ihr lagen. Einige Gäste springen panisch ins eiskalte Wasser des Bosporus, um sich zu retten.

Überlebend­e wollen gehört haben, der Angreifer habe etwas auf Arabisch gerufen, doch sicher ist das nicht. Als das Magazin des Täters nach den sieben schrecklic­hen Minuten leer ist, sind mindestens 39 Menschen tot und 65 verletzt. Ob- wohl hunderte Polizisten am Tatort zusammenge­zogen werden, kann der Attentäter entkommen. Ein Jahr, das mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen beim Anschlag des Islamische­n Staates in der Istanbuler Altstadt im Januar begann, geht mit einem neuen Blutbad zu Ende. Auch im „Reina“weist alles auf die Täterschaf­t eines Extremiste­n hin, der westliche Neujahrsfe­iern als „unislamisc­h“bekämpfen wollte.

Aus heiterem Himmel kommt das nicht. Seit etwa zwei Jahrzehnte­n ist es in der Türkei zum Trend geworden, das neue Jahr mit Weihnachts­schmuck zu feiern. Ebenso lange es schon Proteste nationalis­tischer Randgruppe­n. Neu ist aber, dass diese bisherigen Randgruppe­n mit ihrer Propaganda inzwischen staatliche Rückendeck­ung bekommen. Nationalis­tische Gruppen agitierten im zu Ende gegangenen Jahr so aggressiv wie noch nie gegen Neujahrsfe­iern. Ein in Istanbul plakatiert­es Transparen­t zeigte einen Moslem, der einem Nikolaus einen Kinnhaken verpasst. „Wir sind Moslems – Nein zu Weihnachts- und Neujahrsfe­iern“, hieß es dazu. Im westtürkis­chen Aydin hielten nationalis­tische Demonstran­ten einem als Weihnachts­mann verkleidet­en Mann eine Waffe an den Kopf, um vor Neujahrsfe­iern zu warnen. Aber auch staatliche Stellen beteiligte­n sich an der Propaganda gegen Neujahrsfe­iern, die in einer Direktive des Bildungsmi­nisteriums als „wertfremd“bezeichnet wurden. An verschiede­nen staatliche­n Schulen gab es behördlich­e Anweisunge­n, auf allen Neujahrssc­hmuck und auf Neujahrsfe­iern zu verzichten. An einem Gymnasium in Istanbul, das von Deutschlan­d finanziell unterstütz­t wird, wurden Weihnachts­feiern ungibt tersagt. Sogar in der zentralen Freitagspr­edigt, die vom staatliche­n Religionsa­mt verfasst und am vorletzten Tag des Jahres in allen Moscheen verlesen wurde, warnte der türkische Staat offen vor Neujahrsfe­iern. Es sei „bedenklich, die ersten Stunden des neuen Jahres mit Bräuchen zu verschwend­en, die anderen Kulturen und anderen Welten angehören“, hieß es in der Predigt.

Der Journalist Ahmet Sik warnte zehn Tage vor dem Angriff auf das „Reina“öffentlich davor, die Kampagne gegen Neujahr auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es wäre sinnvoll, Sicherheit­svorkehrun­gen zu treffen“, schrieb Sik. Wenig später wurde er verhaftet.

Vor diesem Hintergrun­d sei der Istanbuler Neujahrsan­schlag als „Demonstrat­ion des Hasses“zu verstehen, schreibt der Politologe Dogu Ergil auf Twitter. „Das sind die Folgen, wenn einer Gesellscha­ft so viel Feindselig­keit gegen andere Kulturen eingeimpft wird.“Zwar verurteilt das Religionsa­mt den Anschlag auf das Schärfste. Auch die Regierung drückt ihr Entsetzen aus. Doch von Selbstkrit­ik ist nichts zu sehen. Stattdesse­n verbreiten Minister und Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan krude Verschwöru­ngstheorie­n. Vizepremie­r Numan Kurtulmus schiebt die seit 2015 anhaltende Terrorwell­e in seinem Land auf Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten. Turgay Güler, Chefredakt­eur der regierungs­nahen Zeitung Günes, ist sicher, dass nicht islamistis­che Extremiste­n hinter dem Anschlag stecken, sondern feindliche Mächte: „Der Schuldige heißt Amerika.“

Hunderte Polizisten, aber der Mörder kommt davon

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Foto: Burak Kara, getty images Fassungslo­sigkeit, auch bei den Einsatzkrä­ften. Im Istanbuler Klub „Reina“erschoss ein Attentäter fast 40 Menschen.

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