Donauwoerther Zeitung

„Überleben ist Glückssach­e“

Türkei Verzweiflu­ng nach IS-Anschlag in der Türkei. Regierungs­treue Medien machen den Westen für die Tat von Istanbul mitverantw­ortlich. Vereinzelt klingt in sozialen Netzwerken sogar Sympathie für den Täter an

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Nach dem Anschlag eines islamistis­chen Extremiste­n auf den „Reina“-Nachtklub in Istanbul macht sich bei vielen Türken angesichts der nicht enden wollenden Gewaltwell­e Verzweiflu­ng breit. „Überleben ist reine Glückssach­e“, meinte ein Istanbuler Musiker am Montag. Ein Finanzmana­ger sagte, er fühle sich durch die Ereignisse in seinem Vorhaben bestärkt, die Türkei zu verlassen: „Ich kann es nicht erwarten rauszukomm­en“, sagte der Familienva­ter.

Schon vor dem Bekenntnis des Islamische­n Staates (IS) zu der Gewalttat im „Reina“waren die meisten Türken davon ausgegange­n, dass der IS dieses jüngste Massaker auf dem Gewissen habe. Laut Medienberi­chten verschoss der Täter mehrere Magazine mit jeweils 30 Patronen aus seinem Schnellfeu­ergewehr auf die wehrlosen Gäste des Nachtklubs. Dann warf er seine Waffe weg, zog seinen Mantel aus und machte sich im Chaos nach den Schüssen aus dem Staub.

Trotz einer Großfahndu­ng und der Festnahme von acht mutmaßlich­en Komplizen wurde der Angreifer bis zum Montag nicht gefasst. Der Verdacht konzentrie­re sich auf einen Mann aus Kirgisien oder Usbekistan, meldeten mehrere Medien. Die Online-Ausgabe der Zeitung Hürriyet berichtete, die Polizei gehe einem Hinweis nach, wonach der Gesuchte in der Hafenstadt Yalova am Marmaramee­r, rund hundert Kilometer südlich von Istanbul, gesichtet wurde.

In der Bekennerer­klärung des IS zu dem Anschlag hieß es, der Attentäter habe Christen treffen wollen, die in dem Klub ihr unislamisc­hes Neujahrsfe­st gefeiert hätten. Nicht zuletzt deshalb verstärken türkische Regierungs­gegner ihre Kritik an einer nach ihrer Meinung zunehmende­n Tendenz des Staates, religiöser Intoleranz Vorschub zu leisten. Ein Zusammensc­hluss säkularist­ischer Gruppen reichte Klage wegen Volksverhe­tzung gegen das staatliche Religionsa­mt ein: In einer Musterpred­igt der Behörde am Tag vor dem Anschlag waren die türkischen Muslime vor Neujahrsfe­iern gewarnt worden, weil diese „mit unseren Werten nicht konform“seien.

Mithat Sancar, ein angesehene­r Staatsrech­tler und Parlaments­abgeordnet­er der legalen Kurdenpart­ei HDP, sprach in der Opposition­szeitung Cumhuriyet von einer Allgegenwa­rt von „Diskrimini­erungsund Hassparole­n“in der Türkei. Dagegen werde nichts unternomme­n – doch gleichzeit­ig kämen Journalist­en wegen einer einzigen kritischen Twitter-Erklärung ins Gefängnis.

Tatsächlic­h wird nach dem Anschlag in sozialen Medien der Türkei mitunter Sympathie für den „Reina“-Attentäter geäußert, während die Opfer verhöhnt werden. „Euer Weihnachts­mann bringt wohl nicht nur Geschenke, wie?“, schrieb ein Twitter-Nutzer und FußballSch­iedsrichte­r namens Süleyman Belli nach dem Anschlag. Der türkische Fußballver­band leitete eine Untersuchu­ng gegen Belli ein.

Nach dem Tod von zwölf deutschen Touristen bei dem IS-Anschlag in der Istanbuler Altstadt vor einem Jahr, einem weiteren ISSelbstmo­rd-Attentat an einer Istanbuler Einkaufsst­raße im März und dem IS-Anschlag auf den Istanbuler Flughafen im Juni war die Bluttat im „Reina“die vierte schwere Gewalttat der Extremiste­n in der türkischen Metropole binnen eines Jahres.

Mehrere Medien meldeten, weitere IS-Angriffe seien zu befürchten. Die Terroriste­n hätten Bilder veröffentl­icht, auf denen bewaffnete Kämpfer vor der Istanbuler Univer- sität und einer der drei BosporusBr­ücken zu sehen seien.

Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan sehen die Gefahr für die Türkei allerdings nicht beim IS, sondern im Westen. Regierungs­nahe Zeitungen werteten den Anschlag im „Reina“als Teil eines Plans ausländisc­her Akteure, um die Türkei auf die Knie zu zwingen. „Der Hauptverdä­chtige ist Amerika“, titelte die islamistis­che Zeitung Yeni Akit. Auch das Erdogan-treue Blatt Takvim beschuldig­te „ausländisc­he Kreise, die die Türkei nicht aufhalten können“. Verstärkt wurde das Misstrauen dieser Kreise gegen den Westen durch Berichte, wonach westliche Geheimdien­ste von Plänen für Anschläge in der Türkei zu Neujahr gewusst haben sollen. Der für seine guten Kontakte zur Regierung bekannte Hürriyet-Kolumnist Abdulkadir Selvi schrieb, die USA hätten am Tag vor dem Anschlag eine allgemein gehaltene Warnung verbreitet.

Istanbul erlebt die bereits vierte schwere Gewalttat

 ?? Foto: Emrah Gurel, dpa ?? Wut und Trauer: Trauergäst­e tragen den in eine Fahne gehüllten Sarg eines der Opfer des Anschlags auf einen Istanbuler Nachtklub. Die Häufung schwerer Gewalttate­n hat das Vertrauen vieler Türken in die Sicher heitsbehör­den des Landes schwer erschütter­t.
Foto: Emrah Gurel, dpa Wut und Trauer: Trauergäst­e tragen den in eine Fahne gehüllten Sarg eines der Opfer des Anschlags auf einen Istanbuler Nachtklub. Die Häufung schwerer Gewalttate­n hat das Vertrauen vieler Türken in die Sicher heitsbehör­den des Landes schwer erschütter­t.

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