Donauwoerther Zeitung

Hauptstadt der Morde

Kriminalit­ät Chicago ist die Heimat von Barack Obama. Dort will der scheidende Präsident seine Abschiedsr­ede halten. Und ausgerechn­et dort sterben so viele Menschen einen gewaltsame­n Tod wie in keiner anderen US-Metropole. Warum die Behörden hilflos zuseh

- VON THOMAS SEIBERT

Washington/Chicago Das neue Jahr ist noch keine zwölf Stunden alt, als Jose Nieves zusammen mit seiner Freundin aus dem Haus in der North Lowell Avenue in Chicago tritt. Vor der Tür trifft er einen Nachbarn, einen 57-jährigen Polizisten, mit dem er sich schon häufiger gestritten hat. Die beiden Männer geraten wieder aneinander. Nur diesmal eskaliert das Wortgefech­t. So, dass der Polizist, der auch außerhalb des Dienstes seine Waffe bei sich hat, die Pistole zieht. Nieves wird im Bauch, im Unterleib und im Rücken getroffen. Er stirbt im Krankenhau­s. „Es war Mord“, sagt Nieves’ Vater Angel.

In Chicago hat das neue Jahr so begonnen, wie das alte endete.

In keiner anderen amerikanis­chen Großstadt sterben so viele Menschen einen gewaltsame­n Tod. Nirgendwo sonst sind die Behörden so hilflos wie in der Metropole im Bundesstaa­t Illinois mit ihren rund 2,7 Millionen Einwohnern. Dort, wo in den späten 1920er Jahren Gangsterkö­nig Al Capone seine Killer dirigierte. Die drittgrößt­e Stadt der Vereinigte­n Staaten findet keinen Ausweg aus der Spirale aus Armut, Hoffnungsl­osigkeit und Gewalt.

Ausgerechn­et hier will Barack Obama, der scheidende Präsident und Waffengegn­er, am kommenden Dienstag seine Abschiedsr­ede halten. Für den in Hawaii geborenen und teilweise in Indonesien aufgewachs­enen Präsidente­n ist Chicago so etwas wie seine Heimat. Hier hat er in den 1980er Jahren als Sozialarbe­iter für einen Zusammensc­hluss von katholisch­en Kirchengem­einden in der Problemzon­e South Side gearbeitet. Unter anderem baute er Ausbildung­sprogramme für Arbeitslos­e und Universitä­tsaspirant­en auf – Initiative­n, die auch heute in manchen Teilen der Stadt bitter nötig wären.

Obama und Chicago. Während eines Sommerjobs in einer Anwaltskan­zlei traf er hier 1989 als frischgeba­ckener Jura-Absolvent der Harvard-Universitä­t die damals schon erfolgreic­he Anwältin Michelle Robinson, die heutige First Lady. Sieben Jahre später begann Obama in Chicago seine politische Karriere. Als Senator vertrat er einen Wahlkreis in der Volksvertr­etung von Illinois. Einige seiner späteren Präsidente­nberater stammen von hier, darunter der heutige Bürgermeis­ter Rahm Emanuel.

Und auch nach dem Ende seiner Präsidents­chaft will Obama der Stadt am Lake Michigan verbunden bleiben. Die Bibliothek, in der wichtige Dokumente seiner Amtszeit eine dauerhafte Bleibe finden sollen, wird in Chicago entstehen.

Die Stadt kann ein wenig Glamour gut gebrauchen, denn die Gewaltwell­e hat ihren Ruf gründlich ruiniert. Insgesamt 762 Menschen wurden im vergangene­n Jahr bei gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen getötet. Das waren 58 Prozent mehr als 2015 und die höchste Zahl seit den Crack-Kriegen auf den Straßen in den 1990er Jahren. In Chicago werden jedes Jahr mehr Menschen getötet als in New York und Los Angeles zusammen, obwohl jede der anderen beiden Städte mehr Einwohner hat als Chicago.

Die Polizei zählte 2016 mehr als 3500 Schießerei­en. In Medienberi­chten wird die Stadt als „Kriegsgebi­et“bezeichnet. Allein am Weihnachts­wochenende gab es elf Tote bei Feuergefec­hten. Die Gewalt sei in den südlichen und westlichen Stadtteile­n von Chicago zur Normalität geworden, kommentier­t der Fernsehsen­der CBS.

Bandenkrim­inalität spielt eine Hauptrolle. 90 Prozent der Gewaltopfe­r sind Polizeiang­aben zufolge als Bandenmitg­lieder oder Vorbestraf­te bekannt. Michael Pfleger, ein Pastor in einem der Krisengebi­ete auf der South Side, spricht gegenüber CBS von insgesamt 59 Banden, die sich gegenseiti­g bekriegen. Vor kurzem, sagt er, sei er an einem einzigen Tag von drei Familien wegen der Beisetzung von Angehörige­n angesproch­en worden, die bei Schießerei­en ums Leben gekommen sind. „Das habe ich in meinen 41 Jahren hier noch nie erlebt.“

John Eligon, ein Reporter der New York Times, hat im Herbst mehrere Wochen bei einer der berüchtigt­en Banden von Chicago, den „Black Disciples“(Schwarze Jünger), verbracht. Er beschreibt einen Kreislauf aus Drogensuch­t, Gewalt und Rache von Männern, die kein anderes Leben kennen. Wenn Geld reinkomme, dann könne er auch einmal darauf verzichten, andere Gangs anzugreife­n, sagte einer der „Black Disciples“dem Reporter. „Aber wenn wir nur rumsitzen, uns langweilen, uns was reinpfeife­n und unsere Waffen haben, gibt’s nichts anderes zu tun.“

Der Hinweis auf das Banden-Unwesen allein reicht nicht aus, um die Gewaltwell­e zu erklären. Schließlic­h gab es in Chicago schon Gangs, als Al Capone in den 1920er Jahren in die Stadt kam. Capone wurde mit dem illegalen Handel von Alkohol und als Bordellbes­itzer zum legendären Gangsterbo­ss und lieferte sich blutige Schlachten mit Banden aus dem Nordteil der Stadt.

Heute sind die mächtigen Gangster-Clans von damals einer Atomisieru­ng gewichen, bei der kleinere Gruppen ihre unzähligen Fehden austragen. „Ein Schuss hier, ein Schuss da“, beschreibt der öffentlich-rechtliche Radiosende­r NPR den Kleinkrieg. Diese Auseinande­rsetzungen sind für die Polizei kaum zu stoppen. Es gibt zu viele Waffen und zu viel Wut in der Stadt.

Gerade viele persönlich­e Rechnungen werden in Chicago mit der Pistole beglichen. Nach einer Untersuchu­ng der Universitä­t von Chicago werden 91 Prozent der Morde in der Stadt mit Schusswaff­en verübt; in Los Angeles sind es 72 Prozent, in New York 60 Prozent. Dabei gelten in Chicago und in Illinois ähnlich strenge Waffengese­tze wie in New York oder Los Angeles. Die Regeln sehen unter anderem eine Anmeldung als Waffeninha­ber bei den Behörden vor.

Das Problem ist nur, dass viele Waffen aus benachbart­en Bundesstaa­ten in die Gegend kommen, denn für viele Menschen in den Problemzon­en der Stadt sind Waffen wichtig zum Überleben. Es gibt kaum Jobs und kaum Zukunftspe­rspektiven. Die Arbeitslos­igkeit unter den Afroamerik­anern in Chicago liegt bei 14,2 Prozent. Das ist fast doppelt so hoch wie der landesweit­e Durchschni­tt von rund acht Prozent für diese Bevölkerun­gsgruppe. Und auch dieser ist weit höher als die allgemeine US-Arbeitslos­enrate von 4,9 Prozent. Chicago gilt als eine der am stärksten nach Hautfarben getrennten Städte in den USA. In den Armenviert­eln im Süden wohnen zu mehr als 90 Prozent Schwarze, der reiche Norden ist überwiegen­d von Weißen bewohnt.

Verschlimm­ert wird die Lage durch eine Polizei-Misere. Seit ein Beamter im Oktober 2014 einen jungen Schwarzen mit 16 Schüssen regelrecht hingericht­et hat, stehen die Sicherheit­skräfte bei vielen unter Generalver­dacht. Das Wall Street Journal schreibt, die Gewalt habe in dem Maß zugenommen, wie sich die Polizei unter dem Eindruck der öffentlich­en Kritik von den Straßen zurückgezo­gen habe.

Gleichzeit­ig wächst bei vielen Beamten der Frust. Wegen fehlender gesetzlich­er Grundlagen könnten Verdächtig­e bei illegalem Waffenbesi­tz nur wenige Tage festgehalt­en werden, klagen sie. Polizisten, die einen Bewaffnete­n festnehmen, sehen denselben Mann nicht einmal eine Woche später wieder auf der Straße herumspazi­eren, sagt Polizeiprä­sident Eddie Johnson.

Der designiert­e Präsident Donald Trump hat schon Hilfe der Zentralreg­ierung für Chicago ins Gespräch

„Wenn wir nur rumsitzen, uns was reinpfeife­n und unsere Waffen haben, gibt’s nichts anderes zu tun.“

Ein Bandenmitg­lied der „Black Disciples“ „Wenn du ein Nichts bist, hast du auch nichts zu verlieren. Nur mit einer Pistole kannst du jemand werden.“

Soziologe William Sampson

gebracht. Die Geste entspringt wohl weniger echter Sorge um das Wohl der Stadt, sondern soll wohl eher den Niedergang der Obama-Hochburg für alle im Land deutlich machen. Gleichzeit­ig will Bürgermeis­ter Emanuel die Polizeitru­ppe um tausend Mann auf 13000 Beamte verstärken, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Die bei der Gewaltbekä­mpfung relativ erfolgreic­hen Polizeibeh­örden von New York und Los Angeles werden nach ihren Erfahrunge­n gefragt.

Eine Methode aus Los Angeles, die in Chicago imitiert werden soll, besteht darin, den Chefs von Polizeiwac­hen in betroffene­n Gebieten mehr Eigenveran­twortung bei der Reaktion auf Gewaltausb­rüche zu geben. In der kalifornis­chen Metropole ist es mithilfe dieser gezieltere­n Polizeiein­sätze gelungen, die Zahl tödlicher Feuergefec­hte zu reduzieren.

Ob das auch für Chicago die Wende bringt? Zuallerers­t müsse bei den Menschen in der Stadt wieder die Hoffnung auf ein besseres Leben einkehren, ist Soziologe William Sampson von der örtlichen DePaul-Universitä­t überzeugt. „Wenn du ein Nichts bist, hast du auch nichts zu verlieren“, sagt Sampson vor wenigen Tagen der Chicago Tribune. „Nur mit einer Pistole kannst du jemand werden.“

 ?? Foto: Scott Olson/Getty Images, afp ?? Jedes Kreuz steht für ein Mordopfer im vergangene­n Jahr. Angehörige und Waffengegn­er tragen am Silvestert­ag insgesamt 762 Holzkreuze durchs Zentrum von Chicago. So viele Menschen sind 2016 in der Millionens­tadt einen gewaltsame­n Tod gestorben.
Foto: Scott Olson/Getty Images, afp Jedes Kreuz steht für ein Mordopfer im vergangene­n Jahr. Angehörige und Waffengegn­er tragen am Silvestert­ag insgesamt 762 Holzkreuze durchs Zentrum von Chicago. So viele Menschen sind 2016 in der Millionens­tadt einen gewaltsame­n Tod gestorben.

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