Hauptstadt der Morde
Kriminalität Chicago ist die Heimat von Barack Obama. Dort will der scheidende Präsident seine Abschiedsrede halten. Und ausgerechnet dort sterben so viele Menschen einen gewaltsamen Tod wie in keiner anderen US-Metropole. Warum die Behörden hilflos zuseh
Washington/Chicago Das neue Jahr ist noch keine zwölf Stunden alt, als Jose Nieves zusammen mit seiner Freundin aus dem Haus in der North Lowell Avenue in Chicago tritt. Vor der Tür trifft er einen Nachbarn, einen 57-jährigen Polizisten, mit dem er sich schon häufiger gestritten hat. Die beiden Männer geraten wieder aneinander. Nur diesmal eskaliert das Wortgefecht. So, dass der Polizist, der auch außerhalb des Dienstes seine Waffe bei sich hat, die Pistole zieht. Nieves wird im Bauch, im Unterleib und im Rücken getroffen. Er stirbt im Krankenhaus. „Es war Mord“, sagt Nieves’ Vater Angel.
In Chicago hat das neue Jahr so begonnen, wie das alte endete.
In keiner anderen amerikanischen Großstadt sterben so viele Menschen einen gewaltsamen Tod. Nirgendwo sonst sind die Behörden so hilflos wie in der Metropole im Bundesstaat Illinois mit ihren rund 2,7 Millionen Einwohnern. Dort, wo in den späten 1920er Jahren Gangsterkönig Al Capone seine Killer dirigierte. Die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten findet keinen Ausweg aus der Spirale aus Armut, Hoffnungslosigkeit und Gewalt.
Ausgerechnet hier will Barack Obama, der scheidende Präsident und Waffengegner, am kommenden Dienstag seine Abschiedsrede halten. Für den in Hawaii geborenen und teilweise in Indonesien aufgewachsenen Präsidenten ist Chicago so etwas wie seine Heimat. Hier hat er in den 1980er Jahren als Sozialarbeiter für einen Zusammenschluss von katholischen Kirchengemeinden in der Problemzone South Side gearbeitet. Unter anderem baute er Ausbildungsprogramme für Arbeitslose und Universitätsaspiranten auf – Initiativen, die auch heute in manchen Teilen der Stadt bitter nötig wären.
Obama und Chicago. Während eines Sommerjobs in einer Anwaltskanzlei traf er hier 1989 als frischgebackener Jura-Absolvent der Harvard-Universität die damals schon erfolgreiche Anwältin Michelle Robinson, die heutige First Lady. Sieben Jahre später begann Obama in Chicago seine politische Karriere. Als Senator vertrat er einen Wahlkreis in der Volksvertretung von Illinois. Einige seiner späteren Präsidentenberater stammen von hier, darunter der heutige Bürgermeister Rahm Emanuel.
Und auch nach dem Ende seiner Präsidentschaft will Obama der Stadt am Lake Michigan verbunden bleiben. Die Bibliothek, in der wichtige Dokumente seiner Amtszeit eine dauerhafte Bleibe finden sollen, wird in Chicago entstehen.
Die Stadt kann ein wenig Glamour gut gebrauchen, denn die Gewaltwelle hat ihren Ruf gründlich ruiniert. Insgesamt 762 Menschen wurden im vergangenen Jahr bei gewaltsamen Auseinandersetzungen getötet. Das waren 58 Prozent mehr als 2015 und die höchste Zahl seit den Crack-Kriegen auf den Straßen in den 1990er Jahren. In Chicago werden jedes Jahr mehr Menschen getötet als in New York und Los Angeles zusammen, obwohl jede der anderen beiden Städte mehr Einwohner hat als Chicago.
Die Polizei zählte 2016 mehr als 3500 Schießereien. In Medienberichten wird die Stadt als „Kriegsgebiet“bezeichnet. Allein am Weihnachtswochenende gab es elf Tote bei Feuergefechten. Die Gewalt sei in den südlichen und westlichen Stadtteilen von Chicago zur Normalität geworden, kommentiert der Fernsehsender CBS.
Bandenkriminalität spielt eine Hauptrolle. 90 Prozent der Gewaltopfer sind Polizeiangaben zufolge als Bandenmitglieder oder Vorbestrafte bekannt. Michael Pfleger, ein Pastor in einem der Krisengebiete auf der South Side, spricht gegenüber CBS von insgesamt 59 Banden, die sich gegenseitig bekriegen. Vor kurzem, sagt er, sei er an einem einzigen Tag von drei Familien wegen der Beisetzung von Angehörigen angesprochen worden, die bei Schießereien ums Leben gekommen sind. „Das habe ich in meinen 41 Jahren hier noch nie erlebt.“
John Eligon, ein Reporter der New York Times, hat im Herbst mehrere Wochen bei einer der berüchtigten Banden von Chicago, den „Black Disciples“(Schwarze Jünger), verbracht. Er beschreibt einen Kreislauf aus Drogensucht, Gewalt und Rache von Männern, die kein anderes Leben kennen. Wenn Geld reinkomme, dann könne er auch einmal darauf verzichten, andere Gangs anzugreifen, sagte einer der „Black Disciples“dem Reporter. „Aber wenn wir nur rumsitzen, uns langweilen, uns was reinpfeifen und unsere Waffen haben, gibt’s nichts anderes zu tun.“
Der Hinweis auf das Banden-Unwesen allein reicht nicht aus, um die Gewaltwelle zu erklären. Schließlich gab es in Chicago schon Gangs, als Al Capone in den 1920er Jahren in die Stadt kam. Capone wurde mit dem illegalen Handel von Alkohol und als Bordellbesitzer zum legendären Gangsterboss und lieferte sich blutige Schlachten mit Banden aus dem Nordteil der Stadt.
Heute sind die mächtigen Gangster-Clans von damals einer Atomisierung gewichen, bei der kleinere Gruppen ihre unzähligen Fehden austragen. „Ein Schuss hier, ein Schuss da“, beschreibt der öffentlich-rechtliche Radiosender NPR den Kleinkrieg. Diese Auseinandersetzungen sind für die Polizei kaum zu stoppen. Es gibt zu viele Waffen und zu viel Wut in der Stadt.
Gerade viele persönliche Rechnungen werden in Chicago mit der Pistole beglichen. Nach einer Untersuchung der Universität von Chicago werden 91 Prozent der Morde in der Stadt mit Schusswaffen verübt; in Los Angeles sind es 72 Prozent, in New York 60 Prozent. Dabei gelten in Chicago und in Illinois ähnlich strenge Waffengesetze wie in New York oder Los Angeles. Die Regeln sehen unter anderem eine Anmeldung als Waffeninhaber bei den Behörden vor.
Das Problem ist nur, dass viele Waffen aus benachbarten Bundesstaaten in die Gegend kommen, denn für viele Menschen in den Problemzonen der Stadt sind Waffen wichtig zum Überleben. Es gibt kaum Jobs und kaum Zukunftsperspektiven. Die Arbeitslosigkeit unter den Afroamerikanern in Chicago liegt bei 14,2 Prozent. Das ist fast doppelt so hoch wie der landesweite Durchschnitt von rund acht Prozent für diese Bevölkerungsgruppe. Und auch dieser ist weit höher als die allgemeine US-Arbeitslosenrate von 4,9 Prozent. Chicago gilt als eine der am stärksten nach Hautfarben getrennten Städte in den USA. In den Armenvierteln im Süden wohnen zu mehr als 90 Prozent Schwarze, der reiche Norden ist überwiegend von Weißen bewohnt.
Verschlimmert wird die Lage durch eine Polizei-Misere. Seit ein Beamter im Oktober 2014 einen jungen Schwarzen mit 16 Schüssen regelrecht hingerichtet hat, stehen die Sicherheitskräfte bei vielen unter Generalverdacht. Das Wall Street Journal schreibt, die Gewalt habe in dem Maß zugenommen, wie sich die Polizei unter dem Eindruck der öffentlichen Kritik von den Straßen zurückgezogen habe.
Gleichzeitig wächst bei vielen Beamten der Frust. Wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen könnten Verdächtige bei illegalem Waffenbesitz nur wenige Tage festgehalten werden, klagen sie. Polizisten, die einen Bewaffneten festnehmen, sehen denselben Mann nicht einmal eine Woche später wieder auf der Straße herumspazieren, sagt Polizeipräsident Eddie Johnson.
Der designierte Präsident Donald Trump hat schon Hilfe der Zentralregierung für Chicago ins Gespräch
„Wenn wir nur rumsitzen, uns was reinpfeifen und unsere Waffen haben, gibt’s nichts anderes zu tun.“
Ein Bandenmitglied der „Black Disciples“ „Wenn du ein Nichts bist, hast du auch nichts zu verlieren. Nur mit einer Pistole kannst du jemand werden.“
Soziologe William Sampson
gebracht. Die Geste entspringt wohl weniger echter Sorge um das Wohl der Stadt, sondern soll wohl eher den Niedergang der Obama-Hochburg für alle im Land deutlich machen. Gleichzeitig will Bürgermeister Emanuel die Polizeitruppe um tausend Mann auf 13000 Beamte verstärken, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Die bei der Gewaltbekämpfung relativ erfolgreichen Polizeibehörden von New York und Los Angeles werden nach ihren Erfahrungen gefragt.
Eine Methode aus Los Angeles, die in Chicago imitiert werden soll, besteht darin, den Chefs von Polizeiwachen in betroffenen Gebieten mehr Eigenverantwortung bei der Reaktion auf Gewaltausbrüche zu geben. In der kalifornischen Metropole ist es mithilfe dieser gezielteren Polizeieinsätze gelungen, die Zahl tödlicher Feuergefechte zu reduzieren.
Ob das auch für Chicago die Wende bringt? Zuallererst müsse bei den Menschen in der Stadt wieder die Hoffnung auf ein besseres Leben einkehren, ist Soziologe William Sampson von der örtlichen DePaul-Universität überzeugt. „Wenn du ein Nichts bist, hast du auch nichts zu verlieren“, sagt Sampson vor wenigen Tagen der Chicago Tribune. „Nur mit einer Pistole kannst du jemand werden.“