Donauwoerther Zeitung

Endzeitsti­mmung am Bosporus

Hintergrun­d In der Türkei nimmt die Gewalt kein Ende, der Lynchmob entkommt ungestraft, Touristen machen einen Bogen um das Land. Und nicht nur die Inflation drückt die Wirtschaft

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Als Kemal Kiricdarog­lu, Opposition­sführer in Ankara, diese Woche vor seiner Parlaments­fraktion in der türkischen Hauptstadt eine Bilanz der jüngsten Ereignisse im Land zog, sprach er vielen seiner Landsleute aus der Seele. „Wir stehen vor den Trümmern eines Staates“, sagte er. Extremiste­n töten innerhalb weniger Wochen hundert Menschen, darunter den russischen Botschafte­r. Nationalis­tische Lynchmobs machen Jagd auf angebliche Vaterlands­feinde. Die Lira ist im freien Fall. In Städten wie Istanbul und Ankara gehen wegen Stromausfä­llen immer wieder die Lichter aus. Zum Jahresanfa­ng herrscht Endzeitsti­mmung in der Türkei.

Welch ein Unterschie­d zu dem selbstbewu­ssten und internatio­nal attraktive­n Land der vergangene­n Jahre: Noch vor relativ kurzer Zeit boomte die türkische Wirtschaft, in Städten und an den Stränden löste ein Besucherre­kord den anderen ab. Heute bleiben die Touristen aus, weil islamistis­che Gewalttäte­r den Istanbuler Flughafen angreifen. Der sonst so ansteckend­e Optimismus vieler Türken weicht immer mehr der Verzweiflu­ng.

„Wie ein Albtraum“komme ihr Land vor, sagt eine türkische Bürgerin. Die schweren Anschläge vom Dezember, bei denen in Istanbul und Kayseri Dutzende von Menschen starben und in Ankara der russische Botschafte­r Andrej Karlow erschossen wurde, waren noch nicht verarbeite­t, als das Massaker im Istanbuler Nachtklub „Reina“die Nation erschütter­te.

Niemand erwartet, dass dies die letzte Tat der Extremiste­n gewesen sein könnte. Die Kurdengrup­pe PKK droht weiter mit Gewalt. Abu Bakr al-Bagdadi, der Chef des Islamische­n Staates (IS), ruft seine Anhänger zu Anschlägen in der Türkei auf. Der Todesschüt­ze aus dem „Reina“ist nach wie vor auf der Flucht. Die türkischen Behörden wirken hilflos angesichts der Bedrohung: Trotz des seit Juli geltenden Ausnahmezu­standes, der jetzt um weitere drei Monate verlängert wurde, können sie die Attacken nicht verhindern.

Während demokratis­che Rechte weiter eingeschrä­nkt bleiben, verroht die politische Kultur immer weiter. Aufgebrach­te Rechtsnati­onalisten griffen auf dem Rollfeld des Istanbuler Atatürk-Flughafens den Modeschöpf­er Barbaros Sansal an, als dieser aus dem Flugzeug stieg: Sansal war zum Ziel einer Medienkamp­agne geworden, nachdem er, angewidert von der politische­n Entwicklun­g in seinem Land, der Türkei öffentlich gewünscht habe, sie solle in ihrem Kot ersticken.

Mit Müh und Not und mit Hilfe von Polizeibea­mten konnte sich Sansal in einen Wagen retten, der ihn vom Flugzeug wegbrachte. Trotzdem kam er anschließe­nd in Untersuchu­ngshaft: wegen des Verdachts auf Volksverhe­tzung. Den Schlägern auf dem Rollfeld wurde kein Haar gekrümmt.

Andere Mobs attackiert­en in jüngster Zeit öffentlich ausgestell­te Kunstwerke, die ihnen unpatrioti­sch vorkamen. Die Festnahmen von Kurdenpoli­tikern und anderen Regierungs­gegnern gehen ebenfalls weiter, aber nicht nur in der Politik regiert die Gewalt. Laut der Bilanz einer Frauenrech­tsgruppe werden immer mehr Türkinnen von ihren Männern, Verwandten oder Lebensgefä­hrten umgebracht. Nach 303 Opfern im Jahr 2015 zählten die Aktivistin­nen für das vergangene Jahr 328 Morde an Frauen. „Es herrscht eine unglaublic­he Angst in diesem Land“, sagt ein Künstler.

Selbst der wirtschaft­liche Aufdas schwung des Landes, der für viele Türken den größten Erfolg der Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan darstellt, bekommt ernsthafte Dämpfer. Die Inflation steigt. Die Lira hat allein im letzten halben Jahr ein Viertel ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren – eine gefährlich­e Entwicklun­g für ein Land, das alle Rohstoffe zur Energiegew­innung importiere­n und in Dollar bezahlen muss.

Wie unsicher die Energiever­sorgung inzwischen geworden ist, bekommen die Türken in jüngster Zeit immer häufiger durch längere

Rechtsnati­onalisten attackiere­n Modeschöpf­er Immer häufiger längere Stromausfä­lle

Stromausfä­lle zu spüren. Energiemin­ister Beraat Albayrak, ein Schwiegers­ohn von Erdogan, kanzelte publikumsw­irksam die Chefs der Stromverso­rger vor laufender Kamera ab. Doch an der Tatsache, dass viele Türken mitten im Winter ohne Licht und Heizung dasitzen, änderte Bayrak damit nichts.

Hoffnung gibt es kaum. „Der Druck steigt immer weiter“, schrieb der Journalist Metin Münir nach dem „Reina“-Anschlag in einem Beitrag für die Online-Plattform T24. „Alles ist schwarz.“

 ?? Foto: Tolga Bozoglu, dpa ?? Nicht zuletzt die endlose Serie von Gewalttate­n in Istanbul (hier auf einer Archivaufn­ahme die winterlich­e Bosporusbr­ücke) belastet das Klima im gesamten Land. Die Wirt schaft verliert deutlich an Schwung.
Foto: Tolga Bozoglu, dpa Nicht zuletzt die endlose Serie von Gewalttate­n in Istanbul (hier auf einer Archivaufn­ahme die winterlich­e Bosporusbr­ücke) belastet das Klima im gesamten Land. Die Wirt schaft verliert deutlich an Schwung.

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