Kurz und abgründig
Literatur Daniel Kehlmann legt mit „Du hättest gehen sollen“eine Schauergeschichte vor. Aber so einfach macht er es seinen Lesern dann doch nicht
Vordergründig ist die neue Erzählung „Du hättest gehen sollen“des Schriftstellers Daniel Kehlmann eine Schauergeschichte. Ein Paar verbringt mit seinem Kind ein paar Tage in einem schicken Ferienhaus in den Bergen. Er ist Drehbuchautor, der die Zeit auch zum Schreiben nützen möchte; aber er kommt nicht gut voran. Sie ist Schauspielerin und hätte gerne, dass er seine Zeit mit ihr und dem Kind verbringt. Beste Voraussetzungen also, um sich zu streiten. Was beide auch ausgiebig tun.
Alles wäre vorhersehbar in diesem Kurzurlaub, gäbe es dieses Haus nicht. Unten im Dorf raunt der kauzige Verkäufer im einzigen Geschäft dem Drehbuchautor zu, dass etwas mit dem Haus dort oben nicht stimme. Der Drehbuchautor bekommt den ersten Albtraum, später verschwindet für kurze Zeit sein Spiegelbild. Das Haus bekommt neue Zimmer, es verändert sich.
Gleichzeitig findet der Erzähler heraus, dass Susanne eine Affäre hat. Die Situation zwischen ihr und dem Drehbuchautor eskaliert. Sie fährt mit dem Auto davon, er bleibt mit dem Kind abgeschnitten von der Welt in dem Gruselhaus.
Vordergründig ist die neue Erzählung von Daniel Kehlmann eindeutig Genre-Literatur. Alles erinnert an „Shining“von Stephan King und irgendwie auch an Schauergeschichten, die sich Kinder erzählen. Aber das ist nur die Vorderseite der flott zu lesenden Geschichte. Und wie bei Münzen auch, wo sich vorne die exakte Zahl befindet und hinten das viel schwerer deutbare Bildmotiv, sollte man in Kehlmanns „Du hättest gehen sollen“vor allem den Hintergrund im Auge behalten.
Da geht es nicht um das Erzeugen von Horror, sondern um Literatur, um das Schreiben, um die Konstruktion und das Konstruieren eines Texts. Denn was der Leser liest, soll das neue Notizbuch des Drehbuchautors sein. Der Leser wird also direkt mit der Geschichte verbunden, weil er das entscheidende Stück ja selbst in den Händen hält – und er weiß doch, dass es ein gedrucktes Massenprodukt des Rowohlt-Verlags ist und nicht das Autograf dieses Drehbuchautors.
Und so geht dieses Vexierspiel weiter. Denn was in dieser Geschichte möglicherweise als gesichert gelten kann, ist, dass sie in einem Notizbuch steht. Aber weil es nur diese Perspektive gibt und keinen weiteren Erzähler, muss das alles gar nicht tatsächlich geschehen sein. Und wieder dreht sich alles. Denn wann bitte schön geschieht in einer fiktiven Geschichte etwas tatsächlich?
Und so legen Sätze wie: „Worte. Sie treffen nicht, wie es wirklich ist“eine Fährte zur Rückseite dieser Erzählung, um das Grundproblem des Schreibens, der Sprache und des Verständigens überhaupt. Die Worte benennen ja nur immer Dinge, sie sind nicht die Dinge. Später heißt es: „Wenn ich sage, dass man sich zu den drei Dimensionen noch drei von der anderen Seite, oder eigentlich von innen, dazudenken muss ... Aber wem soll ich das erklären?“Man kann diese Sätze auch als Schlüsselaussage über die Autorschaft an sich lesen. Da ist der Schriftsteller mit seinen Ideen und dort – auf der anderen Seite – die Geschichte mit ihrer Logik, ihren Figuren, ihrem Leben.
Erstaunlich ist, dass diese so viel fruchtbarere Ebene der Erzählung in kaum einer Kritik des Buchs eine Rolle gespielt hat. Dort wird fast ausschließlich über ein Stück Genre-, sprich Schauerliteratur geurteilt, das dem einen mal schlechter, mal besser gefällt. Was wiederum als großes Lob für den Schriftsteller Daniel Kehlmann gewertet werden muss, der auf der Oberfläche so einfach erzählt, dass auch professionellen Lesern der doppelte Boden komplett aus dem Blick geraten kann.
Daniel Kehl mann: Du hättest gehen sollen. Rowohlt, 96 S., 15 ¤