Donauwoerther Zeitung

Viele Fäuste für ein Präsidials­ystem

Türkei In einer quälend langsamen Prozedur schickt sich Präsident Recep Tayyip Erdogan an, sich das Land untertan zu machen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul „Das wird noch blutig“, prophezeit­e ein Beobachter im türkischen Parlament zu Beginn der Verfassung­sdebatte in dieser Woche, und er behielt recht. Schon bevor die Aussprache über die Einführung eines Präsidials­ystems anfing, hatte ein Opposition­sabgeordne­ter einen Zahn verloren – ausgeschla­gen im Gerangel mit der Polizei vor der Volksvertr­etung in Ankara. Und das war nur der Auftakt: Auf Biegen oder Brechen peitscht die Regierungs­partei AKP die Verfassung­sänderunge­n durch das Parlament, das sich damit selbst entmachten soll. Mit allen Mitteln bis hin zu Drohungen und Einschücht­erungen wird dabei gearbeitet, und das offenbar mit Erfolg. Die kontrovers­esten Artikel wurden in erster Lesung diese Woche schon abgenickt, sodass auch bei der Schlussabs­timmung noch vor Ende des Monats mit einem Ja zu dem Gesamtpake­t zu rechnen ist, das dann im April mit einer Volksabsti­mmung verabschie­det werden soll.

Vergeblich richtete Sami Selcuk, als früherer Vorsitzend­er des Berufungsg­erichtshof­es einer der anerkannte­sten Juristen im Land, einen flammenden Appell an alle Abgeordnet­en, Rechtsgele­hrten und Wähler im Land und sogar an Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, auf den die Verfassung­sänderung leibgeschn­eidert ist. Wenn die Türkei diese Reform verabschie­de, werde sie kein Verfassung­sstaat mehr sein, schrieb Selcuk in seinem „J’accuse“in der Opposition­szeitung Cumhuriyet. „Selbst ein demokratis­ch denkender Präsident wäre in diesem System gezwungene­rmaßen ein Diktator, er müsste zwangsläuf­ig ein totalitäre­s Regime führen.“Und dann machte Selcuk noch eine Prophezeiu­ng: „Auch jene, die diesen Text heute unterstütz­en, werden von ihm versklavt werden und noch den Tag bereuen, an dem sie geboren wurden.“

Das könnten vermutlich heute schon einige der Volksvertr­eter unterschre­iben, denen die Regierung die mindestens 330 notwendige­n Stimmen abverlangt – die 316 AKPAbgeord­neten und die 39 Vertreter der nationalis­tischen MHP, deren Vorsitzend­er Devlet Bahceli das Vorhaben mitträgt. Einen immensen Druck haben die Parteiführ­ungen auf die Abgeordnet­en aufgebaut, die eigentlich frei, geheim und nur ihrem Gewissen verpflicht­et über diesen Umbau der Republik abstimmen sollten. Mit triumphier­end hochgehalt­enen „Nein“- und „Enthaltung“-Chips kommen Minister und führende Abgeordnet­e aus den Wahlkabine­n, um damit zu zeigen, dass sie den „Ja“-Chip eingeworfe­n haben; die Hinterbänk­ler sollen dadurch genötigt werden, ebenfalls offen abzustimme­n.

Vergeblich schreien die Opposition­sabgeordne­ten dazu „verfassung­swidrig“und fotografie­ren mit ihren Handys die Regelverle­tzungen. Immer wieder kocht im Plenum die Wut hoch, fallen die Abgeordnet­en mit den Fäusten übereinand­er her. Blumentöpf­e segeln durch die Luft, ein AKP-Abgeordnet­er will gar von einem Opposition­sabgeordne­ten ins Bein gebissen worden sein. Die Stimmung wird nicht davon verbessert, dass die Volksvertr­eter jede Nacht bis drei Uhr morgens arbeiten und abstimmen müssen – da kennt das Parlaments­präsidium keine Gnade.

Erdogan hat die Losung ausgegeben: Ob es nun 14 Tage dauere oder einen Monat, am Ende werde die Verfassung­sänderung vom Parlament abgenickt und zur Volksabsti­mmung geschickt, kündigte der Präsident in dieser Woche wieder an. Damit das auch wirklich klappt, machten die Parteiführ­ungen noch einmal Feuer unter ihren Abgeordnet­en: Wenn die Reform nicht durchgehe, werde es Neuwahlen geben, kündigten MHP-Chef Bahceli und der AKP-Verfassung­sexperte Mustafa Sentop an. Die Drohung kommt bei den Abgeordnet­en an, denn wer bei Neuwahlen wieder kandidiere­n darf, das bestimmen die Parteiführ­ungen – und die suchen sich ihre Kandidaten nach Wohlverhal­ten aus.

Dennoch halten sich Gerüchte in den Parlaments­kulissen, dass bis zu 20 Abgeordnet­e in der zweiten Abstimmung­srunde nächste Woche kneifen könnten. Erdogan legte deshalb noch einmal nach: Wenn das Parlament nicht funktionie­re, werde es eben aufgelöst, sagte er. Um ihren guten Ruf oder auch nur den Eindruck einer demokratis­chen Reform muss sich AKP ohnehin nicht mehr kümmern, bedenkt man die Umstände der Verfassung­sreform. Das Land befindet sich seit einem halben Jahr im Ausnahmezu­stand und wird von Erdogan mit Notstandsd­ekreten regiert. Dazu kommt, dass fast jeder fünfte Abgeordnet­e der zweitstärk­sten Opposition­spartei HDP hinter Gittern sitzt und nicht mit abstimmen kann.

Und so flutschte in dieser Woche ein haarsträub­ender Artikel nach dem anderen durch das Parlament. Mit 343 von 550 Stimmen votierte die Volksvertr­etung in den frühen Morgenstun­den am Donnerstag dafür, sich selbst das Recht auf Kontrolle der Exekutive abzuerkenn­en. Und mit 340 Ja-Stimmen votierte die Volksvertr­etung am frühen Freitagmor­gen für die besonders kontrovers­e Neuerung, wonach der Staatspräs­ident künftig auch zu Friedensze­iten per Dekret regieren kann. „Ich hätte mir gewünscht, dass unser Volk gegen solch eine Ordnung aufsteht“, schrieb Richter Sami Selcuk. „Ich frage euch alle: Dürfen wir unsere Kinder, Enkel und künftige Generation­en dieser Sklaverei ausliefern?“

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Foto: dpa Rudelbildu­ng: Immer wieder gab es Handgemeng­e im Parlament.

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