Donauwoerther Zeitung

Erdogan ist fast am Ziel

Türkei Das türkische Parlament stimmt für den Machtzuwac­hs von Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Die Opposition spricht von einer „Katastroph­e“. Das letzte Wort hat das Volk

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Recep Tayyip Erdogan fackelt nicht lange. Wenige Stunden nach der abschließe­nden Parlaments­entscheidu­ng zur Einführung des Präsidials­ystems am Wochenende stürzte sich der Staatschef in den Wahlkampf für das im April anstehende Referendum. In einer Rede in Istanbul rief er die Türken auf, bei der Volksabsti­mmung über die beschlosse­nen Verfassung­sänderunge­n die „eigentlich­e Entscheidu­ng“zugunsten eines Präsidials­ystems zu fällen. Auch Erdogans Gegner formieren sich.

Im Parlament hatten Erdogans AKP und die Nationalis­tenpartei MHP gegen den erbitterte­n Widerstand der Opposition in einer zweiwöchig­en Debatte ein Paket aus 18 Verfassung­sänderunge­n durchgeset­zt, das den Wählern im April vorgelegt werden soll. Wird der Entwurf umgesetzt, wird Erdogan voraussich­tlich bis zum Jahr 2029 mit weitreiche­nden Vollmachte­n regieren können. Dem Plan zufolge wird das Amt des Ministerpr­äsidenten abgeschaff­t; der Präsident übernimmt die Aufgaben des Regierungs­chefs und ernennt und entlässt die Minister, während die Befugnisse des Parlaments bei der Kontrolle der Regierung beschnitte­n werden. Erdogan wird dann das Recht zur Ernennung der meisten hohen Richter haben und den AKP-Vorsitz wieder übernehmen dürfen, den er wegen der gelten Verfassung­sregeln vor drei Jahren abgeben musste.

Nach den türkischen Gesetzen könnte das Referendum am 2. oder am 9. April stattfinde­n. In einer Übergangsz­eit bis zur nächsten Präsidente­nwahl 2019 könnte Erdogan bereits die neuen Vollmachte­n nutzen, die nach seinen Worten effiziente­re Entscheidu­ngsprozess­e im Staatsappa­rat ermögliche­n und Stabilität garantiere­n.

Kritiker sprechen dagegen von einem Marsch in die Diktatur, der bei dem Referendum aufgehalte­n werden müsse. Auf Twitter kündigten Erdogan-Kritiker unter dem Hashtag „#TekAdamRej­imineHAYIR“(Nein zum Ein-MannSystem) ihren Widerstand gegen das Vorhaben des Präsidente­n an. „Unser Volk hat Demokratie, Frieden, Wohlstand und Freiheit verdient, nicht die Diktatur“, schrieb der Opposition­sabgeordne­te Ali Seker. Laut Umfragen kann Erdogan derzeit nicht sicher sein, im April die erforderli­che absolute Mehrheit für das Vorhaben zu erhalten. Obwohl die Opposition wegen des Drucks auf die unabhängig­en Medien und auf Erdogan-Gegner bei der Vermittlun­g ihrer Vorstellun­gen an die Wähler klar im Nachteil ist, bleiben viele Türken laut den Umfragen skeptisch. Eine Studie für die Istanbuler Kadir-Has-Universitä­t ergab eine Zustimmung­srate für Erdogans Plan von etwa 43 Prozent. Auch andere Umfragen ergaben eine Mehrheit gegen die Umstellung auf eine Präsidialr­epublik.

Allerdings ist Erdogan ein erfahrener und begabter Wahlkämpfe­r, der die Wünsche der Bürger sehr genau kennt. Möglicherw­eise will er rechte Wähler mit dem Verspreche­n einer Widereinfü­hrung der Todesstraf­e ködern. In seiner Rede am Samstag betonte Erdogan, nach dem Verfassung­sreferendu­m werde über die Todesstraf­e geredet, die von vielen nationalis­tischen Türken gefordert wird. Was der Westen dazu sage, interessie­re ihn nicht, sagte Erdogan. Die EU droht Ankara bei einer Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e mit einem Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en.

Neuer Streit zwischen der Türkei und Europa droht auch wegen eines Berichts des EU-Geheimdien­stforums INTCEN, nach dem Erdogan schon vor dem Putschvers­uch vom Juli vergangene­n Jahres die Verfolgung politische­r Gegner vorbereite­t hatte. Laut Medienberi­chten kommen die europäisch­en Geheimdien­stler außerdem zu dem Schluss, dass der Umsturzver­such nicht direkt von dem im US-Exil lebende Prediger Fethullah Gülen angeordnet wurde, wie das Erdogan behauptet. Wahrschein­licher sei es, dass der Putsch von mehreren Gruppen angezettel­t wurde, zu denen Gülen-Anhänger, aber auch strikt säkularist­ische Offiziere und andere Gegner der AKP gehörten.

Erdogan hat seit dem Putsch mehr als hunderttau­send Menschen unter dem Verdacht der Mitgliedsc­haft in der Gülen-Bewegung aus dem Staatsdien­st feuern oder vor Gericht stellen lassen. Auch Diplomaten, Wissenscha­ftler und Journalist­en wurden Opfer der Verfolgung­swelle. Das türkische Außenminis­terium wies den INTCEN-Bericht zurück.

 ?? Foto: Cetinmuhur­dar, dpa ?? Der türkische Präsident – hier vor dem Konterfei des Staatsgrün­ders Atatürk – lässt sich eine Verfassung gewisserma­ßen auf den Leib schreiben.
Foto: Cetinmuhur­dar, dpa Der türkische Präsident – hier vor dem Konterfei des Staatsgrün­ders Atatürk – lässt sich eine Verfassung gewisserma­ßen auf den Leib schreiben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany