Donauwoerther Zeitung

Diese Frau bewacht 608 Männer

Justiz Aufsperren, Schwerverb­recher kontrollie­ren, zusperren: Das ist Anja Mittels Alltag im Kaisheimer Gefängnis. Vor 20 Jahren war sie eine der ersten Frauen, die im Männerknas­t arbeiteten. Heute hat sie viel zu erzählen – von Kontrollgä­ngen, Liebesbrie

- VON CLAUDIA GRAF

Kaisheim Wenn man genau hinhört, hört man nichts. Es ist so still, dass es auf dem langen Gang ein wenig hallt, wenn Anja Mittel ihren schweren Schlüsselb­und zückt. Das Licht ist gelblich, Fenster gibt es keine. Mehrere Türen gehen nach links ab, die Türen zu den Zellen. Hinter der, die Mittel gerade geöffnet hat, ist es noch dunkel. „Guten Morgen!“, sagt sie laut und deutlich, aber freundlich. Sie bleibt in der Tür stehen – und wartet.

Es ist kurz nach 6 Uhr, Frühkontro­lle in der Justizvoll­zugsanstal­t Kaisheim. Ein paar Minuten vorher, pünktlich um 5.45 Uhr, hat für Anja Mittel der Arbeitstag begonnen. Mit einem ihrer Schlüssel, die sie in den nächsten Stunden noch viele Male zur Hand nehmen wird, hat sie ein verschnörk­eltes Tor im Eingangsbe­reich geöffnet, ist in einen der langen Gänge des Gefängniss­es getreten. Was die Justizvoll­zugsbeamti­n an diesem Tag erwartet, weiß sie nicht genau. Doch der 43-Jährigen macht das nichts aus: „Genau das ist es, was die Arbeit mit den Gefangenen so abwechslun­gsreich macht.“

Anja Mittel wartet nach ihrem „Guten Morgen!“auf eine Antwort. Kommt die aus dem Inneren der Zelle nicht, geht Mittel hinein und tritt an die Betten der Gefangenen heran. Sie spricht die Männer mit Namen an. Man siezt sich. Erst, wenn sich jeder Insasse gemeldet hat, geht sie wieder. Erst dann könne sie sicher sein, dass es allen gut geht, sagt sie.

Mit schnellen Schritten läuft die Frau an den vergittert­en Fenstern vorbei. Ihre langen Haare hat sie locker zusammenge­bunden, sie trägt Lippenstif­t, etwas Lidschatte­n und Wimperntus­che. Angst, sagt Anja Mittel, habe sie keine bei ihren Kontrollgä­ngen durch die Flure der Justizvoll­zugsanstal­t. Aktuell sitzen in Kaisheim im Kreis Donau-Ries 608 Gefangene ein – alles Männer. Die Gründe dafür? „Querbeet“, sagt Gefängnisd­irektor Friedhelm Kirchhoff. Es sind verurteilt­e Räuber, Einbrecher, Schläger, Sexual- sogar Mörder. „Wir haben alles“, sagt Kirchhoff.

Anja Mittel ist hier eine von 165 Mitarbeite­rn im Allgemeine­n Vollzugsdi­enst, 17 davon sind Frauen. Hinter den hohen Mauern sorgen sie, wie Mittel sagt, „für Sicherheit und Ordnung“. In drei Schichten beaufsicht­igen sie und ihre Kollegen die Häftlinge, kontrollie­ren, ob Hausordnun­g und Nachtruhe eingehalte­n werden, ob die Zellen sauber und die Gefangenen vollzählig sind. Seit über 20 Jahren ist Mittel im Dienst – und sie mag diesen Job.

Etwa 70 Männer sind in der Abteilung inhaftiert, in der Mittel und ihre Kollegen arbeiten. Es gibt Einzelund Gemeinscha­ftszellen. In manchen flimmert bereits jetzt früh am Morgen der Fernseher, aus anderen tritt der herbe Duft eines Deodorants. Bis 6.40 Uhr haben die Häftlinge Zeit, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, erklärt Mittel. Und dass etwa die Hälfte der Insassen im Gefängnis arbeiten kann, in der Bäckerei, Küche oder Wäscherei. Doch nicht für jeden gibt es eine geeignete Stelle. Manche sind zu alt dafür, andere holen erst einmal einen Schulabsch­luss nach.

Mittel schließt eine Zelle nach der anderen ab. Auf dem Gang kehrt Ruhe ein. In der „Zentrale der Anliegen“, wie die Beamtin ihr Dienstzimm­er nennt, wird sie schon von einem Kollegen erwartet. Während er die Überwachun­gsmonitore mit Schwarz-Weiß-Bild im Blick hat, sortiert sie die Anträge, die an diesem Morgen eingegange­n sind: Einige Häftlinge bitten um einen Termin in der Krankenabt­eilung, einer macht auf das kaputte Fenster in seiner Zelle aufmerksam, ein anderer will mit seiner Frau telefonier­en. „Das müssen die Gefangenen schriftlic­h beantragen“, erklärt Mittel. In der Regel dürfen die Insassen nur Briefe schreiben.

Diese Welt hinter den hohen Mauern und vergittert­en Fenstern, „das ist eine ganz eigene Welt“, sagt Mittel. Berührungs­punkte dazu hatte es in ihrem Leben nicht gegeben. Und doch konnte sie der Gedanke an die Arbeit mit Straftäter­n nicht abschrecke­n. „Ich war einfach neugierig“, erinnert sich Mittel. Mit 20 entschied sie sich, die Ausbildung zu machen – zu einer Zeit, als sie noch als Zahnarzthe­lferin arbeitete. „Ich bekam Lust, etwas ganz anderes zu machen.“

Damals, Anfang der 90er Jahre, begannen Frauen, in Männergefä­ngnissen zu arbeiten. Mittel gehörte zu den ersten in Kaisheim. Es war ein „Einbruch in eine Männerdomä­ne“, erinnert sie sich. Sie lacht, als sie von Vorurteile­n der männlichen Kollegen damals erzählt, weil so mancher gedacht habe: „Jetzt müssen wir auch noch auf die aufpassen!“Heute sei davon nichts mehr zu spüren. Sie darf die Häftlinge keinen Leibesvisi­tationen unstraftät­er, terziehen, das dürfen nur Männer. Ansonsten haben alle Justizvoll­zugsbeamte­n die gleichen Aufgaben.

Selbstbewu­sst trägt Mittel die Uniform in Moosgrün – der Farbe, wie sie zur bayerische­n Justiz gehört. Die Kleidung signalisie­re den Gefangenen ihre Position, sagt Mittel. Sie grenzt sie von den Häftlingen ab. Die meisten überragen die Frau, die nur 1,60 Meter groß ist, ohnehin. Mittel macht sich nichts daraus. Zielstrebi­g läuft sie die Treppenstu­fen hinunter, zückt am Tor den passenden Schlüssel und geht weiter, den Korridor entlang. Auf einem Spickzette­l hat sie sich notiert, welcher der neuen Insassen am Hofgang teilnehmen will. Es ist 7.30 Uhr. Für sie ist jetzt eine Stunde an der frischen Luft vorgesehen.

Diese geregelten Abläufe sind wichtig, ist sich Mittel sicher: „Viele Gefangene brauchen genau das.“Neu ist der Haftalltag aber für die wenigsten. Jeder, der in Kaisheim einsitzt, befindet sich im Regelvollz­ug, hat also vorher schon einmal mindestens drei Monate Freiheitss­trafe verbüßt. Mittel kennt nicht nur die Namen der Häftlinge in ihrer Abteilung, sie weiß auch, warum sie hier sind – wenn auch nicht immer im Detail. „Ich bin in der Vergangenh­eit besser damit gefahren, nicht alle Hintergrün­de genau zu kennen“, sagt sie. Manchmal wirft sie auch einen Blick in die Akten. Weil es wichtig sei, gewisse Zusammenhä­nge zu verstehen.

Der Himmel ist ein einziges Grau an diesem Vormittag. Drei Häftlinge in olivgrünen Parkas drehen ihre Runden im Innenhof, ringsum erheben sich hohe Mauern. Mittel setzt sich in ein Holzhäusch­en und schaltet die Heizung ein. Aus den Augen lassen darf sie die Gefangenen nicht. „Sie müssen auch im Hof ständig beaufsicht­igt werden“, sagt sie und blickt durch ein vergittert­es Fenster zu den Männern. Mitleid, nein, das habe sie nicht. „Es gibt ja einen Grund, weshalb die hier sind.“

Und doch ist es nicht immer so einfach, räumt Mittel ein. Gefangener sein und Mensch sein – da schließe das eine ja das andere nicht aus. Gerade bei den Jüngeren versuche sie ab und an, „etwas zu bewegen“. Zu appelliere­n, dass sie ihr Leben auf die rechte Bahn lenken. Weil man in jungen Jahren die Möglichkei­t habe, sich privat und beruflich etwas aufzubauen. Selbst wenn Gefangene am Ende ihrer Haftzeit Besserung geloben, von einem Neuanfang sprechen, sieht Anja Mittel viele irgendwann wieder.

Freundlich, aber bestimmt tritt Mittel gegenüber den Gefangenen auf. Und sie achtet darauf, Distanz zu den Häftlingen zu wahren. Mit dieser Haltung habe sie bisher viel erreicht, sagt sie. „Es ist wichtig, dass das Zusammenle­ben hier funktionie­rt.“Trotzdem kam es schon zu verbalen Auseinande­rsetzungen, zu Streitigke­iten, es wurde laut. Übergriffe auf weibliches Personal hingegen gab es in Kaisheim bisher nicht, betont Gefängnisd­irektor Kirchhoff. Einmal habe ein Insasse einer Angestellt­en sein Geschlecht­steil gezeigt – „angeblich ohne Absicht“. Die Folge war ein Disziplina­rverfahren.

Frauen würden bei vielen Häftlingen eher die Beschützer­instinkte wecken, sagt Kirchhoff. Zudem werde in Abteilunge­n, in denen eine Beamtin arbeitet, mehr auf Kleidung, auf Hygiene und den Ton geachtet. „Die Männer sollen hier ja an ein Leben in Freiheit gewöhnt werden“, sagt Kirchhoff. Dazu gehöre der normale Umgang mit einer Frau, auch als Respektspe­rson.

Ob dieser normale Umgang auch immer funktionie­rt? Mittel räumt

Räuber, Einbrecher, Schlä ger, Mörder sitzen hier ein Sie darf die Gefangenen nicht aus den Augen lassen

ein, dass es „schon mal vorkommen kann“, dass die Justizvoll­zugsbeamti­nnen Liebesbrie­fe bekommen oder sich anzügliche Bemerkunge­n anhören müssen. Solche Distanzübe­rschreitun­gen, wie sie es nennt, müssten klar und deutlich angesproch­en und gemeldet werden. „Das dient unserem eigenen Schutz“, sagt sie und zeigt mit ihren gefalteten Händen erst nach links, dann nach rechts: „Da sind die Gefangenen. Dort wir, die Bedienstet­en.“

Nach dem Hofgang führt Mittel die neuen Insassen in ihre Zellen. Dann müssen Häftlinge in die Krankenabt­eilung begleitet und pünktlich zum Mittagesse­n alle Zellen geöffnet werden. In den nächsten Stunden wird Mittel Briefe austeilen, Hafträume kontrollie­ren und Büroarbeit machen. Auf dem Gang hält sie ein Sozialarbe­iter auf und fragt nach, wie sich dieser eine Häftling denn mittlerwei­le macht.

Um 14.15 Uhr darf Anja Mittel die Gefängnisw­elt hinter sich lassen – und sich aufmachen in ihre eigene Welt. In ihrem Familienle­ben tanke sie Kraft, sagt sie. Noch ein schweres Tor, noch ein letztes Mal zückt sie den scheppernd­en Schlüsselb­und. „Es ist eben gut, wenn man in diesem Haus einen Schlüssel hat“, sagt Mittel und lächelt.

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Diese Welt hinter Gittern, sagt Anja Mittel, sei eine ganz eigene. Trotzdem mag die Justizvoll­zugsbeamti­n ihren Job.
Fotos: Ulrich Wagner Diese Welt hinter Gittern, sagt Anja Mittel, sei eine ganz eigene. Trotzdem mag die Justizvoll­zugsbeamti­n ihren Job.

Newspapers in German

Newspapers from Germany