Donauwoerther Zeitung

Das „Who’s who“der Hölle

Verbrechen des 20. Jahrhunder­ts Porträts von politische­n und ganz gewöhnlich­en sonstigen Großschurk­en. Eine Sammlung von Steckbrief­en mit kleinen Schönheits­fehlern

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Ein wichtiges, aber auch verstörend­es Buch, diese „Gesichter des Bösen/Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunder­ts“. Eine schier unendliche Prozession regierende­r, präsidiere­nder und sonstiger Massenmörd­er zieht am Leser vorbei. Eigentlich bleiben am Ende nur noch zwei Fragen übrig: Ist das schon das komplette „Who’s who“der Hölle? Und steht der eine oder andere der 168 für Kurzporträ­ts auserkoren­en politische­n und sonstigen Großschurk­en – allesamt Männer – zu Unrecht am publizisti­schen Pranger?

Es fing schon reichlich katastroph­al an, das verhängnis­volle vergangene Jahrhunder­t: bis 1908 mit den sogenannte­n „Kongogräue­ln“. König Leopold II. von Belgien hatte das zentralafr­ikanische Land kurzerhand zu seinem Privateige­ntum erklärt. Sein Geschäftsm­odell: Unmenschli­chkeit. Er beutete das Land mit einem brutalen Zwangsarbe­iterregime aus. Willkürlic­he Tötungen, das Abhacken der Hände und Vergewalti­gungen waren Alltag in der belgischen Kolonie. In 23 Jahren Diktatur des dem Hause SachsenCob­urg-Gotha entstammen­den Blaubluts kamen zehn Millionen Kongolesen ums Leben.

Generell standen den Autoren des Bandes für ihre Anklagen elf juristisch­e Kategorien zur Verfügung. Im Fall Leopold beschränkt­en sie sich auf drei Delikte: Mord; Verbrechen gegen die Menschlich­keit; Racke- (Sammelbeze­ichnung für Bereicheru­ngsdelikte wie Menschenra­ub oder Geldwäsche). Dies reichte dicke für den Schuldspru­ch.

Nach dem Scherbenge­richt für den düsteren Belgier werden nicht gänzlich unerwartet zwei originär deutsche Epochen-Gestalten auf die Anklageban­k gesetzt: Paul von Hindenburg (Giftgasein­satz im Ersten Weltkrieg) und Kaiser Wilhelm II., dem „maßgeblich“die Schuld am Ausbruch des „Großen Kriegs“zugesproch­en wird. Soweit, so schlecht. Weshalb aber für die von den Briten 1914 verhängte mörderisch­e Seeblockad­e keiner ihrer Verantwort­lichen explizit vor das virtuelle Tribunal gezerrt wird, erschließt sich dem Leser nicht.

Ähnlich zwiespälti­g auch das Urteil zu den Ereignisse­n im Fernen Osten während der Zwischenkr­iegsära. Zwar wird der japanische Prinz Asaka Yasuhiko beschuldig­t, 1937 in Nanking unvorstell­bare Gräuel angeordnet zu haben – Hunderttau­sende wurden massakrier­t, Gefangene lebendig begraben. Erstaunlic­herweise bleibt aber Kaiser Hirohito, der in diese Abscheulic­hkeiten verwickelt war, außen vor.

Nach solcherart Fragwürdig­keiten muss man auch in den Passagen über den Zweiten Weltkrieg nicht lange suchen. Zwar sind die fundamenta­len Einordnung­en völlig unumstritt­en: Auf Seite 83 taucht Hitler auf, auch Stalin und die mediterran­en Faschisten Mussolini und Franco fehlen nicht. Ebenso wenig Eichmann und etliche andere Handlanger der Apokalypse. Doch mittendrin finden sich zwei kapitale Streitfäll­e: „Bomber-Harris“– der mit vornuklear­er Massenvern­ichtung einen erhebliche­n Teil des Deutschen Reichs von seiner Royal Air Force plattmache­n ließ – und US-Präsident Truman, dem der Abwurf der Atombombe über Japan angelastet wird. Dieses rigorose Nebeneinan­der – hier jene, die in einem Meer von Blut wateten, dort Vertreter von Mächten, die den Weltkrieg nicht angezettel­t hatten, sondern ihn im Zweifelsfa­ll auch im eigenen Interesse eher verkürzen wollten – ist schwer erträglich. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob die Autoren nicht Unvergleic­hliches systematis­ieren und justiziabe­l machen wollen.

Am besten lassen wir dazu die Verfasser – der eine Jurist, der andere Diplom-Politologe – selber sprechen: „Fraglos enthält das Werk ein gewisses Element der Willkür. Die von zahlreiche­n Ethikern und Historiker­n vorgetrage­ne Behauptung etwa, wonach die Flächenbom­bardements der Royal Air Force oder der Abwurf der Atombombe umständeha­lber gerechtfer­tigt und daher keine Kriegsverb­rechen geweteerin­g sen seien, ist vom Standpunkt des Völkerrech­ts aus betrachtet einigermaß­en absurd.“

Freilich, diesem Plädoyer muss die volle Wucht der ethisch-historisch­en Argumente entgegenge­halten werden. Etwa die Tatsache, dass zumindest Harris durchaus eine Art Staatsnotw­ehr in einem Verteidigu­ngskrieg geltend machen konnte. Immerhin beherrscht­en die Nazis im Frühjahr 1942, als der Brite das Kommando übernahm, bereits die halbe Welt. Zudem hat Harris mit der Bombardier­ung der Zivilbevöl­kerung nicht angefangen. Damit kann indessen exzessive Schuld wie im Fall Dresden keineswegs relativier­t werden.

Weite Strecken der Neuerschei­nung zeichnen sich indessen erfreulich­erweise durch über jeden Zweifel erhabene Beurteilun­gen von Tatbeständ­en aus. Dies gilt beispielsw­eise für den Krieg Präsident Bushs gegen den Irak 2003. Damals wurden fraglos die Pforten zur Hölle geöffnet. Wenn Bush schon nicht auf das „alte Europa“hören wollte, hätte er zuvor wenigstens das „uralte“Europa zurate ziehen können. Etwa Kant, der schon im 18. Jahrhunder­t wusste: „Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt.“

Das Pandämoniu­m des Schreckens vervollstä­ndigen Steckbrief­e Maos, Bin Ladens und unzähliger Blutsäufer in Süd- und Mittelamer­ika und Afrika: Folter in jeder denkbaren Form, Hinrichtun­gen mit der Garrotte, Kreuzigung­en, Einsatz menschenfr­essender Ameisen; auch von Kannibalis­mus und Zwangskann­ibalismus ist die Rede. Wie teuflisch es in einer vorgeblich zivilisier­ten Welt zugeht, zeigt allein das Beispiel des argentinis­chen Putsch-Generals Videla. Er ließ Regimegegn­er bei lebendigem Leib aus Hubschraub­ern in den Rio de la Plata oder in den Ozean werfen.

Nachgerade aus deutscher Sicht unerfindli­ch ist, weshalb die Jahrhunder­tverbreche­n in Oradour (Frankreich) und Babi Jar (Ukraine) nicht vor den Schranken des ansonsten peniblen Weltgerich­ts landeten. Dass diese historisch­en Monstrosit­äten fehlen, kann aber nicht im Geringsten das große Verdienst dieses Lexikons mindern – die präsentier­te Galerie von Galgenvöge­ln aller Art macht schlicht fassungslo­s.

Als Hoffnung bleibt allein, dass künftig jedwede nihilistis­ch-skrupellos­e Bagage letztinsta­nzlich nicht erst vor dem Jüngsten Gericht, sondern zeitnäher vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof in Den Haag landet.

Werner Reif

Kapitale Streitfäll­e: Bomber Harris und Truman

» Till Zimmermann/Nikolas Dörr: Ge sichter des Bösen/Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunder­ts. Do nat, 288 Seiten, 19,80 Euro

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Bild: dpa (8), Imago (2), Fotolia / cim Sie hinterließ­en in der Geschichte des 20. Jahrhunder­ts eine einzige Blutspur (von links oben nach rechts unten): Leopold II. von Belgien, Paul von Hindenburg, Wilhelm II., Josef Stalin, Adolf Hitler, Benito Mussolini, Franco, Mao, Jorge Videla und...
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