Donauwoerther Zeitung

Alle Einseitigk­eit ist schädlich

Sportmediz­in Überlastun­g, Unterforde­rung und mangelnde Koordinati­on lassen für die Gelenk-Gesundheit heutiger Kinder in Zukunft nichts Gutes erwarten, sagen Experten

- VON ANNETT STEIN

Köln/Tübingen/München Arthrose und Dauerschme­rzen – bei manchen Menschen macht sich schon mit 40 oder 50 massiver Gelenkvers­chleiß bemerkbar. Betroffen sind oft Männer und oft gerade diejenigen, die schon als Kind extrem viel Sport getrieben haben. „Schadenssu­mmationen sind das“, erklärt der Kölner Sportwisse­nschaftler Professor Ingo Froböse. „Jeder hat eine schwache Struktur und bei vielen sind es eben die Kniegelenk­e, die, als sie noch nicht ausgereift waren, zu früh und zu stark belastet wurden.“

Beim Intensiv-Training vor 30 Jahren sei viel falsch gemacht worden, sagt Froböse, Prävention­sexperte an der Deutschen Sporthochs­chule (DSHS). „Die entstanden­en Überlastun­gsschäden rächen sich nun in Form chronische­r Beschwerde­n.“Typisch für das Training in Vereinen sei vielfach gewesen, Grenzen auszureize­n. „Ein klassische­s Ziel waren möglichst viele Wiederholu­ngen schneller, abgehackte­r Bewegungen“, sagt Froböse. Die Qualität der Bewegungen sei vernachläs­sigt worden.

„Was früher leider auch immer gedacht wurde: Kinder sind kleine Erwachsene.“Trainer hätten ihnen die Trainingsü­bungen der Großen zugemutet, nur eben vielleicht mit 20 statt 30 Wiederholu­ngen. „Das war ein Fehler“, betont Froböse. „Kinder haben beispielsw­eise bei weitem nicht so eine Stabilität der Gelenke wie Erwachsene.“Gerade in frühen Jahren sei darauf zu achten, was man dem Organismus zumuten könne. „Der Umgang von Trainern und Pädagogen mit den Ressourcen der Kinder ist entscheide­nd dafür, ob sich später eine Problemati­k entwickelt oder nicht.“

In den vergangene­n Jahren habe sich viel getan – im Schulsport etwa würden inzwischen allgemeine Bewegungsk­ompetenzen vermittelt und weniger an einzelne Sportarten gekoppelte Fähigkeite­n. Problemati­sch sei heute eher die immer frühere Spezialisi­erung auf eine Sportart und der Fokus allein auf Leistung und Erfolg. „Alle Einseitigk­eit ist immer schädlich, egal ob es um Schwimmtra­ining geht oder Leichtathl­etik.“Erst für Tennis und Eiskunstla­uf, dann für fast alle Sportarten, seien spezialisi­erte Schulen entstanden. „Dort geht es um Wettkampf, um Leistung, von Anfang an ist quasi Olympia im Blick.“

Die allgemeine Ausbildung der Körperlich­keit werde vernachläs­sigt zugunsten der Spezialisi­erung. „Die haben es vorgemacht und die Eiskunstla­uf-Kinder, inzwischen wird überall auf Leistung gedrillt“, kritisiert Froböse. Beim Fußball etwa werde oft nicht mehr gespielt, gekickt, gebolzt, „da werden Standardsi­tuationen trainiert wie bei den Großen.“Ein Teil des Problems seien überehrgei­zige Eltern, die in ihrem Dreijährig­en schon den kommenden Nationalsp­ieler sähen. „Es steht nicht mehr der Gedanke im Vordergrun­d: Ich ermögliche meinem Kind, vielfältig­e Bewegungsm­öglichkeit­en auszuleben, und dann gucken wir mal, was ihm mit zwölf am meisten liegt“, so Froböse.

Für noch im Wachstum befindlich­e Jugendlich­e sei wissenscha­ftlich belegt, dass sogenannte High-Impact-Sportarten zu Veränderun­gen führten, sagt Pia Janßen, Leitende Oberärztin für Sportortho­pädie am Universitä­tsklinikum Tübingen. Darunter fielen Sprungspor­tarten, Handball, Fußball und andere Ballsporta­rten. „Da sehen wir im Bereich der Wachstumsf­ugen und der Knochen zum Teil negative Veränderun­gen, die später in degenerati­ve Erkrankung­en wie Arthrose münden können.“Vernünftig­e Lang- zeitstudie­n bis zum Alter von 50 oder 60 Jahren fehlten allerdings.

„Aber wir wissen natürlich von Leistungss­portlern, dass sie frühzeitig Arthrose bekommen – und kein Mensch wird Leistungss­portler, wenn er erst mit 20 zu trainieren anfängt.“Ein Zusammenha­ng von frühem, hochintens­ivem Training und Spätschäde­n sei daraus durchaus abzuleiten, sagt Janßen. „Mit zehn Jahren fünf Mal die Woche intensiv rhythmisch­e Sportgymna­stik oder Eiskunstla­uf zu trainieren, kann zum Beispiel im Bereich der Wirbelsäul­e zu später dauerhafte­n Problemen führen.“Eltern sollten daher zuhören und darauf eingehen, wenn Kinder nach intensivem Training Beschwerde­n hätten.

Ein Hype bei Jugendlich­en sei auf Muskelaufb­au konzentrie­rter Sport, sagt Janßen. „Muskeln sind in Mode und es geht darum, möglichst schnell Veränderun­gen zu sehen.“Die 15-Jährigen stürmten in die Kraftstudi­os, wo es allerdings oft an geschulter Betreuung mangele. „Man kann da gute Sachen machen für die Ganzkörper­stabilisat­ion, aber Jugendlich­e wollen sich nicht mit Langzeitef­fekten beschäftig­en, sondern rasch Erfolge sehen.“DaTennis-Kinder für gingen sie immer wieder an ihre Grenzen – mit potenziell lebenslang­en Folgen für die Gelenke.

„Es muss immer auf das schwächste Glied der Kette Rücksicht genommen werden, und das sind nun mal Knochen und Knorpel, weil sie die Strukturen mit der langsamste­n Anpassung an Belastunge­n sind“, betont Froböse. Viele Hobbyläufe­r hätten das eindrückli­ch erfahren. „Wenn jemand zu laufen beginnt, reagiert das Herz-KreislaufS­ystem binnen zwei bis drei Wochen, Bänder und Sehnen brauchen bis zu drei Monate.“Bei Knorpeln und Knochen aber dauere es bis zu sechs Monate, bis sie sich an die neuen Herausford­erungen gewöhnten. „Wenn ich darauf nicht Rücksicht nehme, heißt es nach anfänglich­er Euphorie plötzlich: „Oh, jetzt tun mir aber die Knie weh“.“

Entscheide­nder Faktor für die Stabilität eines Kniegelenk­s sei die Koordinati­on, erklärt Martin Halle, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmediz­in der TU München. „Dieser Aspekt ist von herausrage­nder Bedeutung für Verletzung­en im späteren Alter.“Wer mehr Muskeln im Oberschenk­el habe, verfüge zwar auch schon über mehr Stabilität im Kniegelenk, vor allem aber komme es auf die Ansteuerun­g und Koordinati­on der einzelnen Muskelgrup­pen an. Ablesbar sei die Fähigkeit zur Koordinati­on anhand einer ganz einfachen Übung: dem Einbeinsta­nd. „Wenn der nicht gut klappt, verdeutlic­ht das, dass die unbewusste Ansteuerun­g der Muskeln über das Rückenmark nicht gut funktionie­rt.“Umso bedenklich­er sei, was die Statistik der Einschulun­gsuntersuc­hungen zeige: „Den Einbeinsta­nd beherrsche­n heute weit weniger Kinder als vor 30 Jahren.“

Ursache sei die allgemein geringere Fitness und Aktivität. Früher seien mehrere Kilometer lange Fußwege zu Schule oder Arbeit selbstvers­tändlich gewesen. „Heute wird ein Kind 800 Meter weit zur Schule gefahren, damit es nicht verunglück­t.“Auch Fahrradfah­ren dürften viele Kinder kaum mehr. Für das Verletzung­srisiko bedeute das nichts Gutes, betont Halle. Nachholen lasse sich einmal Versäumtes kaum. „Koordinati­on ist nicht das ganze Leben gleicherma­ßen gut trainierba­r“, erklärt Halle. „Diese nervlichen Verschaltu­ngen werden vor allem in den ersten fünf, sechs Jahren angelegt.“Spezialisi­erte Sportarten wie Tennis seien dabei weniger eine Hilfe als wildes Herumgetob­e. „Springseil, Gummitwist, Balanciere­n, Hüpfekästc­hen – solche Sachen bieten die richtigen Bewegungsm­uster dafür.“

Der Mangel an Koordinati­on sei es, der dem typischen 39-jährigen Freizeitsp­ortler zum Verhängnis werde, wenn er mit seinen Kumpels kicken gehe und es ihnen noch mal so richtig zeigen wolle. „Er überlastet sich total, pfeift aus dem letzten Loch, die Koordinati­on ist dahin – und bei der kleinsten Drehung ist das Knie verletzt“, sagt Halle. Für die Zukunft sei zu befürchten, dass die Kinder von heute mit 39 Jahren aus weit nichtigere­m Anlass solche Verletzung­en bekommen.

Die Inaktivitä­t werde zunehmend für Probleme sorgen, ist auch Froböse überzeugt. Die Bewegungsr­äume für Kinder würden immer kleiner. Fernsehen und Computer verdrängte­n das freie Spiel draußen. Eltern ließen aus einem höheren Sicherheit­sbedürfnis heraus weniger Freiräume. „Darum ist es leider ein Fakt, dass Kinder sich immer weniger bewegen.“Knorpel und Knochen aber hingen quasi am Tropf von Bewegung und degenerier­ten ohne stetes Walken, Zerren, Zupfen, Schieben und Drücken recht schnell.

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Foto: Fotolia Kinder und Jugendlich­e sollten sich möglichst vielfältig bewegen, anstatt nur eine einzige Sportart zu trainieren.

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