Donauwoerther Zeitung

Tatort Sportverei­n

Missbrauch Sexuelle Übergriffe auf Kinder gibt es im Fußball-, Turn- oder Schwimmklu­b nicht seltener als in anderen Bereichen der Gesellscha­ft. Das zeigt eine Studie. Nun steht ein Jugendtrai­ner aus Ingolstadt vor Gericht. Warum in solchen Fällen die Such

- VON ANIKA ZIDAR UND ANDREAS KORNES

Aschaffenb­urg/Kempten Seine Augen wandern durch den Gerichtssa­al. Sie fixieren Richter, Schöffen und Staatsanwa­lt. Schwere Vorwürfe lasten auf dem Mann. Der Fußball-Trainer aus Ingolstadt, der als Jugendlich­er unter anderem für Vereine im Kreis Aichach-Friedberg gespielt hat und jetzt auf der Anklageban­k sitzt, muss sich wegen sexuellen Missbrauch­s vor dem Landgerich­t Aschaffenb­urg verantwort­en. In seiner Zeit als Coach beim SSV Jahn Regensburg soll sich der 27-Jährige an zwei zehnjährig­en Jugendspie­lern vergangen haben.

Um die Anklagesch­rift zu verlesen, braucht Staatsanwa­lt Matthias Wienand an diesem Morgen nicht einmal fünf Minuten. Auf nur zwei Seiten ist in knappen Worten geschilder­t, was sich im November 2013 am Rande eines Turniers in Berlin und im März 2014 in einem Trainingsl­ager in Alzenau bei Aschaffenb­urg zugetragen haben soll. Für den zweiten Fall steht der Vorwurf schweren sexuellen Missbrauch­s im Raum. Der Angeklagte soll in das Zimmer der Kinder gegangen sein. Er habe einen Buben aufgeforde­rt, ihm in sein Bett zu folgen. Dann habe er sich dazugelegt, den Zehnjährig­en am Bauch gestreiche­lt, sei mit der Hand in die Schlafanzu­ghose geglitten und habe den Buben am Geschlecht­steil angefasst. Schließlic­h habe er ihn am After berührt und einen Finger eingeführt.

Was ist dran an den Vorwürfen gegen den Trainer? Hat er sich tatsächlic­h an den Buben vergangen? Und falls ja: ein krasser Einzelfall? Wie häufig kommt sexueller Missbrauch im Sport überhaupt vor?

Wissenscha­ftler der Deutschen Sporthochs­chule Köln und der Universitä­t Ulm haben dazu kürzlich eine bemerkensw­erte Studie veröffentl­icht. Sie hatten die Daten von 1800 Kaderathle­ten aus 128 Sportarten ausgewerte­t und festgestel­lt: Sexuelle Gewalt kommt im Sport nicht häufiger vor als in anderen Bereichen der Gesellscha­ft – aber auch nicht seltener. Vier von zehn Befragten erlebten im Sport sexuelle Gewalt. 195 berichtete­n von sexistisch­en Witzen, anzügliche­n Bemerkunge­n oder Blicken. 21 Sportler haben ungewollt sexuellen Körperkont­akt erlebt. Erstmals von sexueller Gewalt betroffen waren die meisten Sportler im Jugendalte­r. Und: Sportlerin­nen fielen Tätern häufiger zum Opfer als männliche Athleten.

Die Wissenscha­ftler nahmen auch die Vereine unter die Lupe. Sie befragten 20500 Klubs und erfuhren, dass es in den vergangene­n fünf Jahren in 220 von ihnen Verdachtsf­älle sexueller Gewalt gab. Hochgerech­net auf die 90240 Sportverei­ne in Deutschlan­d ist also davon auszugehen, dass sich in dieser Zeit 1530 Klubs mit sexueller Gewalt befasst haben. Eine Zahl, die danach klingt, als gäbe es da ein richtiges Problem.

Im Fall des Jugendtrai­ners aus Ingolstadt musste sich auch Jahn Re- gensburg mit dem Thema beschäftig­en. Der Mann hatte den Verein bereits verlassen und in Frankfurt angeheuert, als die Mutter eines Buben seinen Nachfolger ansprach. Der Oberpfälze­r erinnert sich als Zeuge vor Gericht: „Wir waren gerade bei einem ganz anderen Thema, da sagte sie plötzlich, sie habe seinen Umgang mit den Spielern komisch gefunden.“So habe sie mitbekomme­n, wie der Angeklagte die Spieler unter der Dusche beobachtet und sie auf den Mund geküsst hätte.

Der Zeuge selbst beschreibt den Angeklagte­n als launisch und temperamen­tvoll, mal besonders wohlwollen­d, dann aber auch wieder sehr streng mit den Kindern. Er sagt, ihm sei der Angeklagte „fast zu freundscha­ftlich“mit den Kindern umgegangen: „Ich hätte die Spieler nie auf den Schoß genommen oder gestreiche­lt.“Kurz nachdem er die Mannschaft übernommen hatte, hätten Spieler gesagt, sie fänden es gut, allein duschen zu dürfen. In der Vorsaison mit dem Angeklagte­n als Trainer sei das nicht so gewesen.

Dessen Hände zittern jetzt. Aufmerksam verfolgt er die Aussagen seines Nachfolger­s. Er knetet die Hände, dreht den Kugelschre­iber auf und wieder zu und öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen. Schnell schließt er ihn wieder, kritzelt Notizen auf seinen Block und legt sie seinem Anwalt hin. Die Rollenvert­eilung ist klar: Der Jurist spricht, der Angeklagte schweigt.

Im Zeugenstan­d schildert sein Nachfolger, wie schwierig es für ihn war, mit den vagen Andeutunge­n der Mutter umzugehen. Gemeinsam mit Kollegen rief er bei den Eltern aller Spieler an. Einen konkreten Verdacht gab es da noch nicht. Bei einem Elternaben­d eine Woche später sei die Situation eskaliert, erzählt der Geschäftsf­ührer von Jahn Regensburg, Christian Keller, vor Gericht: „Ich hatte den Eindruck, dass Eltern aus einer Mücke einen Elefanten machen wollten.“Sie hätten sich vor allem über Trainingsm­ethoden beschwert. Doch Details zu einem möglichen sexuellen Missbrauch habe niemand genannt.

Erst nach dem Elternaben­d sei die Familie eines Buben auf ihn zugekommen, sagt Keller: „Der Vater war völlig außer sich, er machte uns Vorwürfe. Er fragte, wie so etwas beim SSV Jahn passieren könne.“Erst im Vier-Augen-Gespräch habe er berichtet, was sein Sohn mit dem Angeklagte­n erlebt hätte: „Er soll in angetrunke­nem Zustand in das Zimmer des Buben gegangen sein und ihn unten herum angefasst haben.“Er habe die Eltern gebeten, fair zu bleiben und Anzeige bei der Polizei zu erstatten, ohne gleich zur Presse zu gehen, sagt Keller. „Aber am nächsten Tag war alles schon öffentlich und wir wurden von den Reaktionen überrollt.“Bei einer Flyerund Aufkleber-Aktion mit dem Titel „SSV Jahn – Hände weg von Kindern“sei auch er verunglimp­ft worden, so Keller, der bis heute zu seiner Entscheidu­ng steht, den Mann eingestell­t zu haben. „Er war lizensiert­er Trainer und hatte gute Referenzen, die er belegen konnte.“

Und nun womöglich das. Auch in Vereinen in unserer Region hat es schon sexuelle Gewalt gegenüber Kindern gegeben. Wie oft, darüber gibt es keine Statistik. Nur selten benachrich­tigen Vereine oder die Staatsanwa­ltschaft in solchen Fällen den Bayerische­n Landes-Sportverba­nd, den Dachverban­d der Klubs. Eine Gewaltseri­e allerdings ist besonders in Erinnerung geblieben.

Im Allgäu verging sich zwischen 1994 und 2003 ein Schwimmtra­iner des TV Kempten an mehreren Mädchen. Martina – ihren echten Namen will sie nicht in der Zeitung lesen – war zwar nicht direkt Opfer. Aber sie war damals in dem Verein aktiv und erlebte alles aus nächster Nähe mit. „Wir waren eine echte Clique und alle um die 13 Jahre alt“, erinnert sie sich. „Schwimmen war unser Leben.“Ihr Trainer wusste das. Es gab ihm die Macht, zu tun, was er tat. Im Verein errichtete er ein System aus Angst und Abhängigke­iten. „Uns war schon bewusst, dass das nicht sein darf, was er tat. Aber vor ihm haben alle gekuscht. Er hat regelmäßig Wutanfälle bekommen und war sehr cholerisch. Wir hatten einen Heidenresp­ekt, fast schon Angst vor ihm. Gleichzeit­ig wollte jeder dem Trainer mit guten Leistungen gefallen.“

Innerhalb der Gruppe sei über alles gesprochen worden. Auch über Jungs. Man war ja in der Pubertät. „Und dann kamen eben die Geschichte­n auf, dass unser Trainer jemanden geküsst oder bei Massagen Stellen berührt hat, die er nicht berühren darf.“Immer wieder seien in der Clique solche Geschichte­n erzählt worden. Das System der Angst aber hielt. Bis sich zwei aus der Gruppe einer älteren Sportlerin anvertraut­en. Die fiel aus allen Wolken, dass der Trainer sich auch an den jüngeren Mädchen vergangen hatte. „Danach wusste ich, dass ich mit meinen Eltern darüber sprechen musste“, sagt Martina.

Damit geriet ein Prozess ins Rollen, der nicht mehr aufzuhalte­n war. Mehrere Eltern stellten den Trainer zur Rede. Der schaffte es zunächst, sie von seiner Unschuld zu überzeugen. „Er hat alles komplett abgewiegel­t. Im Verein wollten sie es vielleicht auch nicht sehen. Die Vorwürfe waren so krass, dass viele es wohl nicht für möglich hielten.“Das System der Angst und des Schweigens aber hatte Risse bekommen. Als sich ein anderes Mädchen ihren Eltern anvertraut­e, brach es zusammen. Sie gingen zur Polizei, der Trainer kam in Untersuchu­ngshaft.

Im Dezember 2003 wurde der Mann zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Vor dem Kemptener Landgerich­t hatte er gestanden, sich an elf Mädchen vergangen zu haben. Zur Zeit des Missbrauch­s waren die meisten zwölf oder 13 Jahre alt. Laut Staatsanwa­ltschaft habe der Trainer stets Gehorsam und Unterordnu­ng verlangt. Wer ihm nicht gehorchte, lief Gefahr, nicht für Wettkämpfe oder Auswahltea­ms berücksich­tigt zu werden. Immerhin: Mit seinem Geständnis ersparte er es den Opfern, vor Gericht aussagen zu müssen.

Für den Verein war der Fall ein Schock. „Die meisten von uns haben danach aufgehört mit dem Wettkampfs­port“, erzählt Martina. Freundscha­ften gingen auseinande­r. „Es hat Jahre gedauert, bis sich der Verein von dieser Geschichte erholt hat.“Neue Trainer kamen und traten ein schweres Erbe an. Martina warnt davor, in solchen Fällen die Augen zu verschließ­en. „Lieber einmal zu viel etwas ansprechen als einmal zu wenig. Man muss es ja nicht gleich an die große Glocke hängen. Aber Kinder erfinden solche Geschichte­n nicht einfach.“

Von der damaligen Vereinsfüh­rung ist niemand mehr im Amt. Heute leitet Ullrich Kremser als Präsident die Geschicke des TV Kempten, der mit 4500 Mitglieder­n einer der größten Vereine in Schwaben ist. Er sagt, die Sensibilit­ät innerhalb des Vereins sei bei diesem Thema groß. „Sollte jemand diesbezügl­ich einen Hinweis geben, stehen wir sofort auf der Matte. Wir weisen

Der Fall kam nur sehr langsam ins Rollen Eine Expertin sagt: Es gibt eine hohe Dunkelziff­er

unsere Abteilungs­leiter immer wieder auf dieses Thema hin.“

Dass Vereine oft erst dann reagieren, wenn es bei ihnen Verdachtsf­älle gibt, erlebt Jasmin Heptaygun regelmäßig. „Es scheint, als müsse immer erst etwas passieren, damit eine Entwicklun­g in Gang kommt.“Für den Landes-Sportverba­nd berät sie Vereine in solchen heiklen Fragen. Heptaygun geht von einer hohen Dunkelziff­er aus: „Was an Gerichten zu Verurteilu­ngen führt, ist nur ein verschwind­end geringer Bruchteil von dem, was in den Vereinen wirklich passiert.“Der Verband unterstütz­e die Vereine ja gerne, sagt sie. „Ob die Anregungen aber angenommen werden, liegt immer am Verein selbst.“Heptaygun bemängelt, dass die Prävention sexualisie­rter Gewalt noch nicht in allen Traineraus­bildungen Thema sei: „Zwar werden die Übungsleit­er geschult, wie sie sich zu verhalten haben. Aber die Maßnahmen reichen nicht aus, wir müssten sie ausbauen.“

Im Prozess gegen den Regensburg­er Ex-Jugendtrai­ner ist nach vier Verhandlun­gstagen alles offen. Aussage steht gegen Aussage. Die Verteidigu­ng weist alle Vorwürfe zurück. Der Angeklagte schweigt weiterhin. Was die betroffene­n Kinder als Zeugen ausgesagt haben, darüber dringt bis heute nichts an die Öffentlich­keit. Konkret beobachtet hat die Vorgänge niemand. Eltern und Polizeibea­mte erinnern sich nur an wenige Details aus den Jahren 2013 und 2014.

Um den komplizier­ten Fall zu klären, hat das Landgerich­t sechs weitere Verhandlun­gstage angesetzt. Ein Sprecher sagt: „Vor Ende März ist kein Urteil zu erwarten.“

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Foto: Hady Khandani/Joker, imago Tatort Umkleideka­bine: Auch hier sind schon Kinder Opfer sexuellen Missbrauch­s geworden.

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